Todesangst, Schrecken und Gnade

Thomas Meyer, Tages-Anzeiger (04.05.2004)

Les Dialogues des Carmélites, 02.05.2004, Zürich

Ein Stück, das auf faszinierende Weise befremdet: Francis Poulencs «Dialogues des Carmélites» sind erstmals am Zürcher Opernhaus zu hören.

Lange wirkte Madame de Croissy als starke Priorin des Karmeliterinnenklosters von Compigne. Sie hat gebetet, sich um die Nonnen gekümmert und über den Tod nachgedacht. Und ausgerechnet sie befällt angesichts des Todes Angst und Schrecken. Sie schmäht Gott und hat düstere Visionen von der Zukunft des Klosters. Später wird die junge Soeur Constance sagen, vielleicht habe Gott da zwei Tode vertauscht: Er liess die Priorin schwer, ja «schlecht» sterben, und dafür werde eine andere ganz leicht in der Todesstunde hinübergehen. Und tatsächlich schreitet ihre Mitnovizin Blanche, zu der sie das sagt, am Schluss unerschrocken und ruhig, singend aufs Schafott.

1794: Eine Tragödie aus der Schreckenszeit der Französischen Revolution. Die Kloster wurden aufgehoben, die Messe durfte nicht mehr gefeiert werden, die Nonnen wurden, wenn sie weiterhin auffielen, hingerichtet, wie dieser authentische Fall bezeugt. Aber das ist nur der äussere Anlass für dieses Drama. Die Konfrontation mit dem Bösen führt zum inneren Konflikt: zur Angst, zur Todesangst, zur Angst vor der Angst, zur Weltflucht und von da auch zu Vorsehung, Wandlung und Gnade. In der Geschichte der ängstlichen Blanche, die vor der Welt ins Kloster flieht, fand die Schriftstellerin Gertrud von le Fort den «Trost, dass im christlichen Martyrium nicht die persönliche Stärke, nicht Heroismus, sondern Gnade wirksam ist». Auf ihrer Novelle «Die Letzte am Schafott» basiert das Drama «Dialogues des Carmélites», das Georges Bernanos 1947 schrieb, das Francis Poulenc 1953-56 vertonte und das jetzt im Zürcher Opernhaus erstmals zu erleben ist - in einer eindringlichen Darstellung.

Klare, schöne Musik

Wer sich etwa an Lars von Triers Film «Breaking the Waves» erinnert, in dem eine junge Frau betend stirbt und damit ihren invaliden Freund heilt, kann ermessen, wie verstörend solches Wunder, solch grausiges Heilsgeschehen wirkt, zumal wenn es mit solcher Intensität daherkommt wie in den «Dialogues». Bernanos setzte diese Irritation gezielt ein, um den Zuschauer zu bewegen - durchaus im Sinn des konservativen «Renouveau catholique» zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Er wollte nicht schonen, sondern die christlich-existenziellen Fragen mit aller Wucht stellen.

Befremden und Faszination vermischen sich beim Betrachter, und die Musik, die so klar, ja schön wirkt, unterstützt diesen ambivalenten Eindruck. Zu Zeiten der Uraufführung war es für manchen überraschend, dass sich ausgerechnet der als Charmeur und Clown angesehene Neoklassizist Francis Poulenc an das Werk wagte. Er hatte vor der schwarzen Madonna des Wallfahrtsorts Rocamadour eine persönliche Bekehrung erlebt. Dass er sich Bernanos' Drama annahm, war ein Glücksfall, denn er besass die Fähigkeit, diese Dialoge in einer leichten, durchsichtigen, stets fasslichen Tonsprache zu verarbeiten, sodass das Werk nie in dröhnendem Unheil ersäuft, sondern weiterträgt.

Einen Reichtum an musikalischen Einfällen (darin ist Poulenc eine Art Mozart des 20. Jahrhunderts) entfaltet er auf scheinbar ungezwungene Weise, obwohl alles doch aufs Innerste verknüpft ist. Stimmungsmalerei ist seine Sache nicht, von ewiger Melodie, von überlangen Arien will er nichts wissen: Mit einer kurzgliedrigen Wendigkeit, einem Sprechton, der sich aber jederzeit aufschwingen kann (zuweilen fast ins Süssliche), wird klar erzählt. Vergleichsweise wenige heftige, aber umso prägnantere Akzente strukturieren die Tragödie, mit der Hinrichtung am Schluss folgt noch einmal eine grosse Steigerung.

Michel Plasson dirigiert das entsprechend schlank, er arbeitet die feinen, dissonanten Reibungen heraus, mit denen Poulenc seine besonderen Farben einbrachte, er gestaltet überlegt. Gewiss ist die Transparenz auch eine Gefahr: Jedes Detail ist hörbar. Mit wachsender Erfahrung dürfte das Opernhausorchester diese Aufgabe noch sicherer bewältigen.

Kreuz und Schafott

Transparent ist auch die Inszenierung von Reto Nickler, aufs Notwendigste beschränkt: Requisiten sind kaum vonnöten. Hermann Feuchter hat die Bühne geometrisch gegliedert, die Szenerie lässt sich rasch verändern. Die packpapierartigen Flächen erinnern an Guillotinen. Sie sind kreuzartig verklebt; damit werden die beiden Hinrichtungsgeräte Kreuz und Schafott in eins gesetzt und ergeben einen bedrängenden Kontext. Die Übersetzungen, in Weiss und Rot aufs Bühnenbild projiziert und dabei manchmal etwas schwer leserlich, fügen sich selbstverständlich ein.

Der klösterlichen Schlichtheit der Nonnen setzt Katharina Weissenborn die anarchistisch bunten Kleider der Revolutionäre entgegen. So schaffen der Regisseur und sein Team einen äusseren Raum für die inneren Konflikte der Blanche. Denn mag Bernanos auch eine späte Abrechnung mit der Revolution im Auge gehabt haben, im Zentrum steht diese junge Frau, die zunächst vor dem Märtyrertod davonrennt und dann doch ruhig in den Tod schreitet. Diese Ambivalenz des Stücks wird von der Hauptdarstellerin Isabel Rey schauspielerisch und vokal überzeugend und nuancenreich interpretiert.

Gut besetztes Ensemble

Um sie herum agiert ein sehr gut besetztes Ensemble von Charakteren - und hier zeigen sich die Qualitäten der Personenführung Nicklers. Streng wirkt die prinzipientreue Mère Marie von Stefania Kaluza, allein ihrer hohen, distanzierten Erscheinung wegen; pragmatisch wendig dagegen die zweite Priorin, Madame Lidoine (Juliette Galstian); fromm-fröhlich die Constance von Christiane Kohl; liebevoll und zerrissen Blanches Bruder, der Chevalier de la Force (Reinaldo Macias), als Mann von altem Adel der Vater (Cheyne Davidson). Hinzu kommt eine Schar von kleineren Partien sowie der Chor, der vor allem am Schluss zu hören ist.

Das Ereignis des Abends allerdings ist die eingangs erwähnte, am Ende des ersten Akts sterbende Priorin von Felicity Palmer. Mit einer leichten Schärfe in der Stimme verleiht sie dieser Frau ein besonderes Timbre, dennoch wirkt die Stimme sanft, vor allem weil Palmer die vokalen Linien wunderbar rund gestaltet. Schon ihr erster Auftritt, als es darum geht, Blanche in den Karmeliterorden aufzunehmen, bewegt; die grossartige, unbedingte Darstellung ihres «schlechten» Todes schliesslich geht vollends unter die Haut.