Starke Dialoge mit einer suggestiven Musik

Sibylle Ehrismann, Zürcher Oberländer (04.05.2004)

Les Dialogues des Carmélites, 02.05.2004, Zürich

Opernhaus Zürich: Premiere von Francis Poulencs «Dialogues des Carmélites»

Wer eine Geschichte über Nonnen auf die Bühne bringt, komponiert kein Musikdrama. Der Stoff, den der originelle französische Komponist Francis Poulenc, bekannt für seinen pointierten Witz, für seine einzige grössere Oper «Dialogues des Carmélites» gewählt hat, ruft nach einer erzählend oratorischen Form. Doch trotz des geistlichen Themas ohne grosse Handlung ging die von Michel Plasson dirigierte suggestive Musik Poulencs am Premierenabend im Opernhaus Zürich unter die Haut.

Poulenc (1899-1963) war ein Schüler von Charles Koechlin und zählte nach dem Ersten Weltkrieg zu den jungen Anti-Wagnerianern in Paris, die in der «Groupe des Six» um Jean Cocteau nach neuem Geist und pointiertem Ausdruck suchten. Als 1935 Poulencs Lebenspartner tödlich verunglückte, besuchte er ein Kloster und war derart beeindruckt, dass er im Katholizismus seiner Jugend seelisch-geistigen Halt fand. Er schrieb daraufhin viel tief empfundene Kirchenmusik und entwickelte seine ausgesprochen melodische Begabung in zahlreichen Liedern. Sein Esprit und sein Sinn fürs Praktische zeugen von einem subtilen Humor.

Märtyrertod aus Überzeugung

Die Geschichte dreht sich um die «Gespräche der Karmeliterinnen», die im Zuge der Französischen Revolution enteignet werden und, weil sie ihrem Orden nicht abschwören, den Märtyrertod erleiden. Im Zentrum steht die seit ihrer Jugend von tiefer Todesangst gequälte Blanche, die miterlebt, wie die alte Priorin (wie einst ihre Mutter) stirbt. Schliesslich flieht sie sogar, um das Martyrium nicht mitmachen zu müssen. Doch als die Nonnen auf den Richtplatz geführt werden und unter gemeinsamem Gesang dem Tode ins Auge sehen, tritt auch sie hinzu und geht mit ihren Schwestern in den Tod - sie hat die Angst überwunden.

Die Musik von Poulenc strahlt in ihrer erweiterten Harmonik viel Wärme, lyrische Kraft und einen vielschichtigen Farbenreichtum aus. Die gesungenen Melodien sind eingebettet in ein Orchester, das von den dunkel dräuenden Bassregistern bis ins gleissende Licht einen reichhaltigen «Klangraum» evoziert. Und doch sind es die meisterhaft eingesetzten rhythmischen Impulse, die das innere Drama mit Spannung aufladen. Michel Plasson sorgte am Premierenabend vom Sonntag dafür, dass diese lyrische Kraft in ihrer Vielschichtigkeit zum Ausdruck kam. Trotz den vielen «Gesprächen» fesselte die Musik den ganzen Abend lang. Die grosse Steigerung zum gleissenden, die Angst vor dem Tod überwindenden Schlusschor der Nonnen hin war von suggestiver und nie zu pathetisch empfundener Grösse. Eine musikalisch ausgesprochen engagierte Leistung des Opernhausorchesters.

Hilflose Regie

Demgegenüber wirkte die Regie von Reto Nickler samt Bühnenbild (Hermann Feuchter) eher hilflos. Die vielen Bilder spielen sich in einem grossen, leeren Einheits-Bühnenraum ab, der ganz mit Packpapier ausgekleistert ist und mit hellem Band einzelne Risse sichtbar verklebt. Der so suggerierte «zerbrechliche» Innenraum, in dem auch herumliegende Bücher eine Rolle spielen, wirkt in seiner grossen Leere zu undefiniert und hat auch gar nichts Sakrales oder Klösterliches an sich. Die Nonnen spielen auch meist an der Rampe vorne, als hätten sie gar keinen Bezug zu diesem Raum.

Um so heroischer wirkt dieses riesige «Postpaket» dann in der Bedrohung durch die Revolutionäre, welche den in einen Graben getriebenen Nonnen die Schleier vom Kopf reissen. Die von der Decke herabgelassene schiefe Ebene, die mit geöffneten Fenstern ein überdimensioniertes Kreuz evoziert, wirkte nach dieser ewigen Leere einfach zu heroisch. Umso präsenter kamen in diesem monotonen Papierraum die simultanen deutschen Übersetzungen des Librettos zur Geltung. Die starken Texte wurden wie mit Schreibmaschine fortlaufend getippt und an hängende Planen oder an die Wände projiziert. Durch diese «bewegte» Untertitelung war man ständig mit Lesen beschäftigt - zu sehr bei dieser viel sagenden Musik.

Lyrische und dramatische Höhepunkte

Wie wohl sich aber die in diesem Raum verloren wirkenden Sängerinnen im transparenten und doch vielfarbigen Orchesterklang fühlten, offenbarten die vielen lyrischen und dramatischen Höhepunkte des Abends. Von grossartiger Ausstrahlungskraft und echter Empfindung war die Sterbeszene der alten Priorin. Felicity Palmer verlieh dieser gebrechlichen, starken Frau und ihrer grossen Angst vor dem Tod eine erschütternde Kraft, die durch das Kippen der Stimme ins Schreien und den packenden Wechsel von Verzweiflung und Zuversicht zum Höhepunkt des ganzen Abends wurde.

Interessant besetzt waren auch die beiden zentralen Nonnengestalten, Isabel Rey als schwermütige Blanche und ihre Freundin, Christiane Kohl, als junge, lebenslustige Nonne. Isabel Rey stellte nicht einfach ein gottergebenes Mauerblümchen dar, sondern vor allem stimmlich eine emotional tiefe und im ständigen Schwanken echt gefährdete Nonne. Ihr nahm man den freien Entscheid für den Schafott-Tod als eindrückliche Überwindung der Todesangst auch ab. Zu ihrer weichen, im Timbre etwas dunkleren und üppigeren Stimme passte der helle, unbeschwerte Sopran von Christiane Kohl ausgezeichnet. Sie hatte durch ihr Temperament auch eine gute Bühnenpräsenz und führte ihre Stimme agil und quicklebendig.

Juliette Galstian hingegen bekundete als neue Priorin vor allem in der Höhe Mühe, presste regelrecht und vermochte so zu wenig eigenes Profil zu entwickeln. Umso eindrücklicher war die Ausstrahlung von Stefania Kaluza als Mère Marie, welcher die sterbende Priorin die junge Blanche anvertraut hatte. Sie vermochte aus dem Hintergrund eine stimmlich erdige und sehr menschliche Kraft zu vermitteln. Charakter hatten aber auch die eher kleinen Männerpartien. Reinaldo Macias wirkte als besorgter Bruder von Blanche einfühlsam und dramatisch zugleich, während Cheyne Davidson als Vater und Marquis mit souveräner Stimmführung und weiser Einsicht überzeugte. Ausgezeichnet sang auch Christian Jean als abgesetzter Karmeliter-Priester, mit schlanker und doch innig berührender Stimme. Das Publikum, spürbar betroffen von dieser suggestiven Musik und der «brutalen» Geschichte, spendete allen Beteiligten herzhaften Applaus - auch der Regie.