Artifizielle Statik im Alchimistenlabor

Reinmar Wagner, Zürichsee-Zeitung (26.09.2006)

Doktor Faust, 24.09.2006, Zürich

Drei Vertonungen des «Faust»-Stoffs bietet das Opernhaus Zürich in dieser Saison, von Busoni, Gounod und Schumann. Philippe Jordan und Klaus Michael Grüber machten am Sonntag mit Ferruccio Busonis «Doktor Faust» den Anfang.

Am Zürichberg, in der Scheuchzerstrasse, hängt ein unscheinbares Relief am Haus Nummer 36: Hier wohnte Busoni zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Als deutsch-italienischer Doppelbürger - zwei Nationen, die miteinander im Krieg lagen - war er weder hier noch dort willkommen und wählte Zürich zum Exil. Hier entstanden grosse Teile seiner Oper «Doktor Faust», die ihn schon seit 1910 beschäftigte. Aber wohl fühlte sich der gefeierte Klaviervirtuose und Kosmopolit nicht in Zürich. Zu eng und provinziell erschien ihm die Stadt, «von Langeweile umflort», «eine Art Sanatorium». Künstlerfreunde wie Zweig, Wolf-Ferrari, Schoeck, Klemperer oder Rilke scharte er um sich, schrieb nach eigenem Zeugnis drei Briefe am Tag, kämpfte dauernd mit wirtschaftlichen Problemen. Alles keine idealen Voraussetzungen für die Komposition einer Oper, entsprechend schleppend ging die Arbeit voran. Als Busoni 1920 nach Berlin berufen wurde, waren noch immer grosse Teile des «Faust» unvollendet. Nur vier Jahre später war Busoni tot, vom «Faust» blieben die Erscheinung der Helena und der Schluss unvertont. Philipp Jarnach, einer seiner Schüler, vollendete Busonis letztes Werk.

Verzicht auf Sentimentalität

Nicht an Goethes «Faust» orientierte sich Busoni, sondern ging zu den Wurzeln des Mythos, zum Volksbuch und vor allem zum Puppenspiel zurück. Die Gretchen-Episode liegt bereits in der Vergangenheit, die verführte Unglückliche ist hier die Herzogin von Parma, die Faust mit Mephistos Hilfe am Tag ihrer Hochzeit bezirzt und entführt - und mit dem gemeinsamen Kind sitzen lässt. Vor allem interessierte sich Busoni jedoch für die übernatürlichen, geheimnisvollen Passagen im Faust-Stoff, für Geister-Erscheinungen und Dämonen-Beschwörungen, und fand dafür klanglich reizvolle orchestrale Gestaltungsmittel. Wer an die hitzige Glut veristischer Opern gewöhnt ist oder an das klassizistische Pathos bei Richard Strauss, dem muss Busonis Musik fast eisig, also gefühllos, vorkommen. Halbwegs hat er sogar Recht damit: Sie verzichtet auf jede Sentimentalität und hält sich, in dieser geschmacksgefährdeten Epoche besonders bemerkenswert, strikte von Kitsch fern. Das bleibt dem Vollender Philipp Jarnach vorbehalten, der den Schluss in spätromantischer Üppigkeit, aber nicht ohne wagnerianernden Reiz verklingen lässt. Mit Busoni ist das Ende der klassisch-traditionellen thematisch-motivischen Opernkomposition gekommen: Neu sollen sich alle Stimmen im Sinne einer linearen Polyphonie organisieren.

Dichte Partitur

Das hat für einen Dirigenten durchaus Schattenseiten, denn die Partitur ist sehr dicht gewoben. Wer die Farben nicht sensibel auseinanderhält und die verschiedenen Melodielinien aus den Augen verliert, droht in einem wenig aussagekräftigen Klangsumpf zu versinken. Genau das ist Philippe Jordan an der Premiere teilweise passiert. Zwar hielt er Orchester, Chöre und die oft weit hinten platzierten Solisten souverän zusammen, aber an Durchsichtigkeit der Orchestersprache müsste er noch gewinnen, vor allem auch, um die Sänger weniger zuzudecken. Allerdings muss man ihm auch zugute halten, dass nach dem Tod seines Vaters Armin am Mittwoch die letzte Probenwoche für Philippe Jordan unter denkbar schwierigen Vorzeichen stand. Chapeau, dass er sich da durchgekämpft hat!

Busonis «Faust» lebt wesentlich auch von der Titelfigur: Thomas Hampson sang sie, und er tat es am Anfang mit irritierender Zurückhaltung. Unvermögen oder bewusste Konzentration auf die zweite Hälfte? Denn dort ist die Ausdruckskraft einer grossen Sängerpersönlichkeit gefordert, und Hampson enttäuschte nicht: Mit allen Mitteln der Stimme und der Sprache gab er diesem Faust grandios Profil. Ihm zur Seite stand mit Gregory Kunde ein nicht minder beeindruckender Mephisto. Auffallend im diesmal mittelmässigen Zürcher Ensemble sang Sandra Trattnigg die Herzogin, eher enttäuschend Reinaldo Macias den Soldaten.

Farbige Giftküche

Mit riesigen Gestellen voller Glasflaschen in allen Formen und gefüllt mit Flüssigkeiten in hellen giftigen Farbschattierungen ist dem Maler Eduardo Arroyo ein grandioses Bühnenbild geglückt. Die Hofgesellschaft zu Parma hat in ihrer artifiziellen Statik ebenfalls noch ihren Reiz (Kostüme: Eva Dessecker). Für die zweite Hälfte dann hat Arroyo wenig inspiriert die Rumpelkammer geplündert und die Fundstücke auf seinen Gestellen drapiert. Irgendwo darf hinter einer Plastikpuppe auch Helena dann erscheinen, die am Schluss auch noch nackt ans Kreuz gefesselt wird. Das entspricht zwar Busonis Regie-Anweisung, wirkt aber allzu verniedlichend. Busonis Faust ist «ein ewiger Wille», und er erringt als solcher die übermenschliche, nämlich teuflische Fähigkeit, seine Ideen und Wünsche alle in Tat umzusetzen. In dem Masse, wie er damit die Grenzen des Menschenmöglichen sprengt, offenbart diese Fähigkeit ihre tödliche Kraft, die sich zum Schluss gegen Faust selber wendet. Kurz, bevor er stirbt, gelingt es ihm zwar, diesen «ewigen Willen» seinem Sohn zu übertragen. Ob das nun eine glückliche finale Wendung darstellt oder aber eine fatale, das muss offen bleiben.

Und bleibt auch offen bei Klaus Michael Grüber. Der gelernte Schauspielregisseur, der in Zürich schon «Makropoulos», «Idomeneo», «Ulisse» und «Katerina Ismailova» inszenierte, beschränkte sich darauf, das Libretto nachzustellen. Zeitweise in einem Minimalismus an Personenführung, die an Verweigerung grenzt. Wenn man diese Statik zu Beginn noch als Regiekonzept verstehen konnte, so wurde sie dann doch aufgebrochen durch wuselnde Teufelchen und pittoresk drapierte Geister-Erscheinungen. Kein Meisterstück, und leider eine verpasste Gelegenheit, diesem gewiss nicht einfach zu realisierenden Werk auf adäquate Weise szenisch gerecht zu werden.