Die Bühne als Reflexionsraum

Tobias Gerosa, Der Bund (16.03.2004)

Radamisto, 14.03.2004, Zürich

Das Opernhaus Zürich inszeniert Händels «Radamisto» unter der Leitung des Barockspezialisten William Christie

Die Schweizer Erstaufführung von Händels «Radamisto» ist ein szenischer Versuch, der nicht recht aufgeht. Musikalisch zeigt er auf beneidenswertem Niveau, was und wie erfüllt Barockoper sein kann.

Dreieinhalb Stunden schon dauert die Familiensaga um Liebe, Hass und Eifersucht. Mehrmals kommt es um ein Haar zum Mord oder zur Vergewaltigung – und dann die letzten zehn Minuten: Alles löst sich in einem Duett und einem Schlusschor auf. Die während 35 Arien gesponnenen Ränke sind vergessen, die Verletzungen verschwunden: Un dì più felice, bramarsi non lice – einen glücklicheren Tag darf man sich nicht wünschen.

Der Dirigent William Christie, der in Zürich die Schweizer Erstaufführung von Händels «Radamisto» leitet, gehört zweifellos zu den Spezialisten, welche Händels Musik (auch durch historische Kenntnisse) heutig werden lassen kann. Mit ihm zeigt auch das Orchestra La Scintilla, das aus dem modernen Opernhausorchester entstanden ist, um sich ganz der historischen Aufführungspraxis zu widmen, mit seinem Klang und seiner Spielkultur deutlich, wie reich Händel komponierte und wie erfüllt seine Musik tönen kann.

An der Barockoper gescheitert

Szenisch ist es schwieriger. Historische Erkenntnisse helfen hier nicht weiter. Rekonstruktionen alter Inszenierungen würden höchstens lächerlich wirken und gerade bei Händel sicher nicht dafür sorgen, dass die zeitlose Aussage der Musik ankommt. Claus Guth (Regie) und Christian Schmidt (Ausstattung) haben es am Opernhaus auf eine sehr überlegte Weise und mit musikalischem Verständnis versucht – auf hohem Niveau, aber doch sind sie an den Eigenheiten der Gattung Barockoper gescheitert, die sich psychologisch nur zum Teil interpretieren lässt.

Guth und Schmidt lassen die Oper in zwei identischen, halbrunden Innenräumen spielen. Trotz Kronleuchter und Tapisserie sind wir im Heute bei einem Familienclan, wie er auch in Fernsehsoaps vorkommen könnte. Die hellen Räume sind die der Macht, und die hat sich Tiridate (Reinhard Mayr singt ihn mit etwas gar viel Schaugepränge als Bösewicht) eben mit Gewalt von seinem Schwiegervater Farasmane (Rolf Haunstein) geholt. Doch was er eigentlich will, ist seine Schwägerin Zenobia.

Wer sich gegen den starken Mann stellt, muss in den düsteren Gang zwischen den beiden Sälen, dorthin, wo Tiridates Bodyguards ihre Waffen offen tragen und wo konstant Unheil droht – eine starke räumliche Übertragung der Machtverhältnisse. Überzeugend auch, dass dieser Zwischenraum gleichsam als Spiegel wirken kann. Die Drehbühne ist konstant im Einsatz: Alles dreht sich und bleibt doch auf der Stelle.

Interessanterweise sind es nicht die langen Da-Capo-Arien, in denen die Inszenierung nicht vom Fleck kommt. Hier bewährt sich Guths Ansatz, das Innenleben und die Beziehungen der Personen zu verdeutlichen. Wie wenn sie sich selber zuschauen könnten, wird den Figuren die Bühne zum Reflexionsraum: Sie erleben Ereignisse nochmals, reflektieren oder können sich dank Doubles selber zuschauen. Die Handlung ist dabei angehalten – musikalischer kann man Händel nicht inszenieren, und Guth und seinen Darstellerinnen gelingen einige Male auf-schlussreiche musiktheatralische Momente. Vor allem dann, wenn Marjana Mijanovic als Radamisto, Liliana Nikiteanu als Zenobia oder Malin Hartelius als Polissena zu ihren so differenziert gesungenen Arien ansetzen.

«Labyrinth der Liebe»

Schwierig wird es dort, wo Guth nicht darum herumkommt, der Fabel zu folgen und die musikalisch so breit und farbig ausgedrückten Seelenzustände auch zu motivieren. Hier flacht die Inszenierung ab, am weitesten dort, wo die beiden Nebenfiguren Fraarte (die frisch und virtuos klingende Elizabeth Rae Magnuson) und Tigrane (Isabel Rey gesundheitlich stark angeschlagen) unnötigerweise zu Buffofiguren gemacht werden, deren Auftritte stilistisch genauso aus dem Rahmen fallen wie der golfende Tiridate oder die drehende Sabinerinnen-Plastik Giambolognas. Was sich so kaum ergibt, ist ein verbindender Bogen. Für den sorgt allein die Musik. Auch wenn die grossen Hit-Arien fehlen, ist das ganze Affektspektrum abgedeckt, nicht umsonst spricht das Leitungsteam von einem «exemplarischen Labyrinth der Liebe», und musikalisch wird dies auch eingelöst.

Perfektes Hörerlebnis

William Christie am Pult des Orchestra La Scintilla lotet das Spektrum ungemein differenziert aus. Andere Dirigenten gehen mehr in die Extreme, Christie bleibt immer elegant und tänzerisch, mit untrüglichem Sinn für Rhythmen und Farben. Das austarierte, junge und hochklassige Ensemble macht das Hörerlebnis perfekt.