Seelenlabyrinth und Mafia-Comic

Herbert Büttiker, Der Landbote (16.03.2004)

Radamisto, 14.03.2004, Zürich

Ein raffiniertes Raum-Zeit-Gefüge löst im Opernhaus Zürich Händels strenge Opera seria «Radamisto» in ein Theater auf, in dem Musik und Bild, Figuren, Arien und Gefühle faszinierend ineinander kreisen.

Auch wenn Händel nicht der konsequenteste Vertreter der Opera seria war, so zeigt der «Radamisto» von 1720, die erste für die von ihm selber geleitete «Royal Academy» in London komponierte italienische Oper, doch deren dramaturgisches Grundprinzip. Einfach gesagt ist es der Zwiespalt zwischen dem Arienkonzert, auf das sich die Musik konzentriert, und dem Rezitativ, das die Handlung in Tönen skizziert, die eher Rhetorik als eigentliche Musik sind. In «Radamisto» folgen der Ouvertüre 37 Nummern, neben zwei Duetten, einem Quartett, einer Sinfonia und dem Schlusschor nicht weniger als 32 Arien. Die Handlung aber ist die eines szenenreichen Romans: Farasmane, der Herrscher von Thrakien, hat sein Imperium aufgeteilt auf seine Sprösslinge, den Sohn Radamisto, der mit Zenobia glücklich verheiratet ist, und die Tochter Polissena, deren Ehe mit Tiridate sich als fatal erweist. Dieser setzt sich nämlich in den Kopf, Herrscher des Gesamtreiches zu werden und dem Schwager die Frau auszuspannen. Was daraus folgt, ist in Stichworten: die Eroberung der belagerten Stadt, Zenobias und Radamistos Flucht, Selbstmordversuch der Zenobia, die in den Fluss springt, aber von Tiridates Leuten gerettet wird, Radamistos heimliches Eindringen ins feindliche Lager, das glückliche Wiedersehen der Liebenden, die sich je totgeglaubt haben, Polissenas Zerrissenheit, zwischen der Pflicht, ihren Bruder und – trotz allem – ihren Mann zu schützen, der Aufstand des Volkes, angeführt von Tigrane, der hoffnungslos in Polissena verliebt ist, schliesslich die Selbstbesinnung und Rückkehr des Tyrannen zu menschlichen Normen.

Drehbühne als Zeitmaschine

Auf das Nebeneinander aus stillstehender Arienzeit und pittoreskem Erzählraum reagiert die Zürcher Inszenierung mit einer ingeniösen Bühne. Christian Schmidt hat auf der Drehbühne spiegelbildlich zwei voneinander abgewandte identische halbrunde Räume angeordnet: hoch ästhetisches Palastambiente mit Kronleuchter, Wandteppich, Banketttisch oder herrschaftlichem Bett, je nach Szene. Dazu kontrastiert das rohe Fassadengemäuer der von den Innenräumen ausgesparten Bereiche. Düster und eng ist es hier. Die Drehbühne rückt je nachdem den einen oder anderen Schauplatz ins Blickfeld, und da alle durch Türen verbunden sind, können sie vor den Augen des Zuschauers in langen Gängen durchwandert werden.

Das tun sie ausgiebig. Claus Guths Regie lässt die Arien weit ausschreiten, und was den Figuren unterwegs begegnet, sind Bilder ihres Innern, in denen sie sich mal mutiger, mal feiger, mal entschlossener, mal inkonsequenter als in der wirklichen Handlungssituation benehmen. Zenobia, die ihre unerschütterliche Treue bekundet, ist auf diesem Gang in die Räume ihres Innern doch auch bereit, sich der Macht des Tyrannen zu beugen. Die Verdoppelung der Figuren durch Tänzerinnen und Tänzer, das Einfrieren in erstarrten Posen und nicht zuletzt eine surreale Beleuchtung laden dieses Psycho-Theater weiter auf.

Das alles mag nicht immer auf Anhieb gleich plausibel wirken, und die unablässige Bewegtheit weckt auch den Wunsch nach schlichterer Konzentration auf den Gesang. Aber immer wieder fasziniert das eigenartige Raum-Zeit-Gefüge der Inszenierung. Wenn der Sänger nach dem Arienweg, der ihn immer weiter weggeführt hat, genau mit der Schlusskadenz wieder dort ankommt, von wo er ausgegangen ist, um den Handlungsfaden wieder aufzugreifen, scheint die Zeit eben mal stillgestanden zu sein – ein «musikalischer» Effekt, der sich auf überraschende Weise im Grossen wiederholt, wenn sich am Ende wieder das Anfangsbild einstellt.

Das Traumwandlerische, das in diesem labyrinthischen Treiben die Figuren zu lenken scheint, kommt natürlich erst recht zum Tragen mit der traumwandlerischen Sicherheit, mit der Händels teilweise virtuos-akrobatischer Gesang vom Zürcher Ensemble gemeistert wird. William Christie stützt sich auf das zwar stark besetzte, aber sehr agile Orchestra «La Scintilla» der Oper Zürich und treibt die Tempi weit auseinander, wach und überlegen. Nur, Atemlosigkeit und Langatmigkeit waren nicht immer ganz gebannt, und das Glück des Duetts «Se teco vive il cor» am Ende des 2. Aktes wäre möglicherweise grössere gewesen, wenn es nicht so forsch (war das wirklich «Allegro ma non troppo»?) angegangen worden wäre. In vielen Arien jedoch kam die zündende Virtuosität des Laufwerks unerhört effektsicher zum Einsatz. Besonders brillant und mit der Zugabe treffsicherer Spitzentöne lieferte sie Elizabeth Rae Magnuson, wobei sie mit der Rolle des Fraarte, der nur untergeordnet am Geschehen beteiligt ist, nebenbei auch noch gekonnt eine lockere Blödelschau abzog.

Zündende Arienkunst

Passt sie in diese Werk? Die Inszenierung jedenfalls versteift sich nicht auf die heroische Stillage. Von den Kostümen her in einer obskuren High Society der Gegenwart angesiedelt – Farasmanes Reich ist vielleicht ein Firmenimperium oder etwas noch Schlimmeres –, liebäugelt sie auch mit einem Mafia-Comic und dem Schwulst der Vorabendserie, wozu Rolf Haunstein als alternder Patriarch ja auch ausgezeichnete Figur machte. Nur Isabel Reys Tigrane, im Libretto ein Principe di Ponto und durchaus ein heroisch Liebender, hat bei allem musikalischen Glanz, den er mitbekommt, unter diesem Milieu, in dem glänzende Pistolen und schwarze Sonnenbrillen zu den unverzichtbarsten Requisiten gehören, ein wenig zu leiden. Die weiteren Figuren bleiben in ihrer emotionalen Substanz unangetastet und entfalten ihre musikalische Expressivität ungebrochen.

Und wie! Reinhard Mayr ging die Partie des wütenden Tiridate in den Rezitativen vielleicht zu brüllerisch an, aber zur treffenden Figurenzeichnung trug der nervöse Griff zu Zigarette, Alkohol und Tabletten genauso bei wie der bewegliche Einsatz seines energischen Baritons. Liliana Nikiteanu als Zenobia gestaltete ihre vielen ausdrucksvollen Arien mit dem berührenden Legato und dem zündenden Temperament einer gereiften Stimme. Marijana Mijanovic als Radamisto stattete zumal das berühmte Largo «Ombra cara» mit überlegen ruhiger Phrasierung aus, liess aber auch – vor der Aufführung krank gemeldet – in den Allegro-Attacken bei aller Verve eine gewisse Verhaltenheit spüren. Malin Hartelius zog als Polissena alle Register ihres makellosen Soprans, und schlicht grandios war, wie sie in ihrer letzte Arie («Barbaro, partirò») die rasende Wut im tiefernsten Pathos auf die Spitze trieb und gleichzeitig – sie packt ihren Koffer – eine hochkomische Slapsticknummer lieferte: ein brillantes Kabinettstück, das dem nach vielen Seiten hin schillernden Händel-Abend eine Krone aufsetzte.