Über Zivilcourage

Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (16.03.2004)

Radamisto, 14.03.2004, Zürich

«Radamisto» von Händel im Opernhaus Zürich

Wiewohl in Mode, jedenfalls allerorten ausgegraben, können sich Opern von Georg Friedrich Händel ziemlich in die Länge ziehen. Eine Arie nach der anderen und alle nach demselben Muster: mit einem Hauptteil, einem im Ausdruck zurückgenommenen, auch in eine andere Tonart versetzten Mittelstück und der Wiederholung des Hauptteils - da capo. So ist es auch bei «Radamisto» von 1720, Händels erster Oper für die damals neu gegründete Royal Academy of Music in London. Nicht weniger als achtundzwanzig Da- capo-Arien folgen sich hier im Verlauf von drei Akten und gut drei Stunden Spieldauer; ganz selten mischt sich eine Cavatina darunter oder ein Ensemble - da könnte es einem möglicherweise fad werden.

Auch von der Geschichte her, die hier erzählt wird. Sie dreht und dreht sich, bis alles derart ineinander verknotet ist, dass es für die Lösung schon einer sehr wundersamen Fügung bedarf. Die Rede ist von einem Vater mit Sohn und Tochter, und zur Befriedigung von Farasmane sind beide glücklich verheiratet: Radamisto mit Zenobia, Polissena mit Tiridate. Auch mit Amt und Würden sind sie versehen; der Sohn herrscht über Thrakien, der Schwiegersohn über Armenien. Doch aus dem Nichts heraus verlangt es Tiridate nach seiner Schwägerin Zenobia. Mit brutaler Willkür geht er zu Werk, verstösst er die Gattin und bricht er einen Krieg mit dem Nachbarstaat vom Zaun. Seine Gegenspieler indessen geben nicht auf. Arie um Arie stellen sie ihre Zivilcourage unter Beweis; am Ende siegt das Gute so vollkommen, dass kein Tropfen Blut fliesst. Das ist nicht ohne Aktualität, in der dramaturgischen Durchführung aber so krud, wie es nur in der Oper möglich ist.

Musikalisch ausgelotet

Dennoch hat das Opernhaus Zürich mit Händels «Radamisto» jetzt einen vielfach anregenden Abend im Programm: dank einer Aufführung, welche die Vorzüge des Werks mit Sorgfalt wie Vehemenz ans Licht stellt. Schon in der einleitenden Sinfonia mit der französisch überpunktierten Einleitung und dem wirbelnden schnellen Teil macht der Dirigent William Christie deutlich, dass er auf den zugespitzten Kontrast der Affekte zielt, und das hauseigene Barockorchester «La Scintilla» setzt dieses Konzept glänzend um. Sehr üppig kann sich da der Klang ausbreiten, und gleich kann er auch wieder zurückgenommen werden auf ein solistisch besetztes Concertino; abwechslungsreich die Tempi, die metrischen Konstellationen, die Artikulationen. Gut zu hören ausserdem, wie raffiniert die Holzbläser eingesetzt werden: teils colla parte, parallel zur Singstimme, teils konzertierend, also im Wettstreit mit ihr, teils als Färbung des Gesamtklangs. Und wunderbar, wie vielfältig in den Da-capo-Teilen nuanciert und ausgeziert wird - da sind ganze Entdeckungsreisen zu machen. Aber natürlich geht es bei einer italienischen Oper, wie sie Händel in London vertrat, weit weniger um Instrumentales als bei «Les Indes galantes» von Rameau im letzten Jahr; was bei «Radamisto» im Vordergrund steht, ist der virtuose Gesang.

Und da gab es an der Premiere zwar einige Einschränkungen, doch sang sich das Ensemble hörbar frei und fand zu immer bewegterer Gestaltung. Zwei Sängerinnen liessen sich als indisponiert melden, unter ihnen Marijana Mijanovi in der Hauptrolle des Radamisto; die junge, enorm begabte Altistin bewältigte ihre sieben Arien aber prächtig und liess etwa in «Ombra cara» am Anfang des zweiten Aktes eine herrliche Tiefe hören. In je eigener Weise ausdrucksstark Liliana Nikiteanu und Malin Hartelius in den Partien der standhaften Gattinnen Zenobia und Polissena, während Reinhard Mayr als der Bösewicht Tiridate mit überschäumendem Temperament operierte, in den finalen Koloraturen jedoch etwas ermüdet wirkte. Dass Isabel Rey in der Rolle des edlen Feldherrn Tigrane unter einer Indisposition litt, war zu hören; allerdings geriet ihr gerade die grosse Arie mit der obligaten Oboe am Ende des ersten Akts, bei der sie mit stimmlichen Problemen zu kämpfen hatte, besonders schön. Eine würdige Erscheinung, wenn auch bisweilen stilfremd opernhaft Rolf Haunstein als der alte Farasmane. Und blendend beweglich, witzig und frech Elizabeth Rae Magnuson in der Partie des Juniorministers Fraarte.

So hätte es gut und gerne ein Arienkonzert mit Bildern werden können - aber dem stellten sich der Regisseur Claus Guth und sein Ausstatter Christian Schmidt wirkungsvoll entgegen. Dass die ganz unterschiedlichen Temperamente der handelnden Figuren auch in der Körpersprache so krass herausgearbeitet werden, mag nicht nach jedermanns Geschmack sein; zum Teil geht es an die Grenze zum Chargieren, zum Teil wirkt es grob, ja plump. Aber immerhin ermöglicht es der Ansatz zusammen mit der aufs Bühnenportal projizierten Übersetzung, sich in dem nicht ganz einfachen Handlungsgefüge rasch zurechtzufinden. Und dass da und dort das Pathos durch szenischen Witz gebrochen wird - etwa wenn zwei Frauen in Hosenrollen auf der Herrentoilette Blutsbrüderschaft schwören oder die zornige Gattin ihren Koffer packt und dabei auch den Walkman nicht vergisst -, wirkt immerhin erfrischend.

Psychologisch erhellt

Weitaus interessanter jedoch der Versuch, das Gefüge der Oper auch szenisch zu nutzen. Wie sich die Handlung dreht, so dreht sich die Bühne. Gleichsam Rücken an Rücken stehen zwei Räume mit je einer halbrund gebogenen Rückwand: hell ausgeleuchtete Säle in strengem Klassizismus, dazwischen zwei düstere Vorplätze. Das erlaubt nicht nur schnelle räumliche Wechsel und szenische Beweglichkeit, in der Anlage spiegeln sich auch die musikalischen Formen. Zum Teil schon in den Mittelstücken der Da-capo-Arien, spätestens aber in den wiederholten Hauptteilen wandeln sich die Säle zu von unten beleuchteten, durch mächtige Schattenwirkungen geprägten Seelenräumen, in denen sich die Projektionen der singenden Figuren verwirklichen: Hoffnungen, Wunschträume, Ängste. So erhält die virtuose Aussenseite von «Radamisto» eine Tiefendimension, welche die Produktion ganz unprätentiös zum Ereignis macht.