Sollte dieser Mann verunglückt sein?

Götz Thieme, Stuttgarter Zeitung (26.09.2006)

Doktor Faust, 24.09.2006, Zürich

Michael Grüber inszeniert in Zürich Ferruccio Busonis Oper "Doktor Faust" mit Thomas Hampson in der Titelrolle

Nahe am Zürichsee steht ein Opernhaus, das innen wie außen Glanz, gediegenen Bürgergeist, Kunstwillen signalisiert: Rot und golden prunkt der festliche Saal aus der emsigen Werkstatt der Wiener Architekten Fellner und Helmer; um die Jahrhundertwende waren sie Marktführer im Theaterbau, entwarfen fast fünfzig Gebäude. Der Zürcher Opernbetrieb gleicht ihrem Schaffen: der rasenden Eile, mit der hier die Premieren herauskommen; dem dekorativen Glanz der meisten Inszenierungen, der austauschbar wie der Zürcher Zuschauerraum ist (genauso sieht es auch im Grazer Opernhaus aus und in Hamburger Schauspielhaus); dem Reichtum der Mittel, in dem sich der Wohlstand der Bürger von Stadt und Kanton spiegelt - im deutschsprachigen Raum ist man wohl führend im Einwerben von Drittmitteln bei Sponsoren; schließlich das gediegene Schimmern des Orchesterklangs, der von herrlich altertümlich falber Farbe ist.

Alles zum Besten also für Erfolge, für eine Aufführung von Ferruccio Busonis aufwendiger Oper "Doktor Faust", die der Komponist bei seinem Tod 1924 unvollendet hinterließ. Ergänzt vom Busonischüler Philipp Jarnach, uraufgeführt 1925 von Fritz Busch in Dresden, wurde das Stück zu einer Ikone der musikalischen Moderne. Aufgespannt zwischen Choralintonation und schweifendem Melos öffnet sich ein polystilistisches Reich von Formen und Tonfällen, dazu der irrsinnige, ausufernde Text vom Komponisten selbst, den von Goethe bearbeiteten alten Stoff noch weiter ins Mystische treibend, andererseits der theatralisch wirksame Faltenwurf der Mephisto-Gestalt - es ist des machtvollen Feuerstoffs genug, an dem sich Bühnenfantasie entzündet.

Wenn ein "Faust" auf die Bretter zu stemmen ist, dann mit dem Regisseur Michael Grüber, mag sich der Zürcher Intendant Alexander Pereira gedacht haben. 1982 hat Grüber an der Volksbühne Berlin Goethes Bühnenstück eingekocht auf drei Personen, mit dem gloriosen Bernhard Minetti als Faust - von der Aufführung, die Theatergeschichte geschrieben hat, gibt es eine schöne Fernsehaufzeichnung. Grüber, merklich ausgezehrt vom Theaterleben, hat nicht anknüpfen können an die fahle Magie der Goetheaufführung. Die Auftritte sind flüssig gestellt, die Posen sicher ausgeleuchtet: aber Figuren treten nicht auf und uns nah, aus der Haltung gerinnt kein Verhalten. In den Chorszenen spürt man keine lenkende Hand.

Diaphan wie das Spiel bleibt die räumliche Setzung. Eduardo Arroyo hat zwei Bilder entworfen, einmal im Rechteck stehende portalhohe Glasregale mit Phiolen, Kolben, Ballongläsern, in ihnen Flüssigkeiten: uringelb, curaçaoblau, chatreusegrün, gerberaorange. Dann von gleicher Größe roh gezimmerte Holzstellagen mit allerlei Trödel vom gesplitterten Karussellpferdchen bis zum oxidierten Grammofontrichter. Im Parma-Bild spiegelt sich kalter Lüsterglanz, unter dem der omnipotente Faust als Zauberkünstler wirkt und den König Salomo, die Königin von Saba, Samson und Dalila, in präraffaelitischer Manier staffiert, aus der Unterbühne heraufgleiten lässt. Das zunehmend erkältende Nachbuchstabieren der Szenenanweisungen wird lediglich unterboten vom selbstverliebten Gewese des Faust-Sängers Thomas Hampson.

Langmähnig greift er sich schmerzerfüllt an die rechte Gesichtshälfte, als sei er das Phantom der Oper, schüttelt die Haarmatte, verzückt die Augen gen Bühnenhimmel verdrehend, tänzelt, macht alberne Reverenzen. Ein ziemlich gesund-ungefährdeter Zwei-Seelen-in-der-Brust-Gelehrter. Stimmlich dagegen war Hampson ziemlich angegriffen, dünn und rau wurde es in hoher Lage, dann rettete sich der Star in gespucktes Pathos. Gregory Kunde als höhensicherer Mephisto und Sandra Trattnig als solide Herzogin von Parma verschonten einen damit .

Wer vor gut einem Jahr den Stuttgarter "Doktor Faust" von Wieler/Morabito gesehen und gehört hat, erfuhr, warum Busonis Oper als Meisterwerk gilt. Denn ungreifbar, ohne eigenen Ton auch blieb in Zürich die orchestrale Realisierung. Kapellmeisterlich brav und sicher lenkte Philippe Jordan die Abläufe - das Visionäre der Partitur, die räumlichen Wirkungen verschenkte er, trotz der großartigen Leistung des Orchesters, besonders von Streichern und Schlagzeug.

"Mein Traum vom Theater ist wahrhaftig die Ergriffenheit - im Theater müssen Tränen vergossen werden - wir brauchen diese Hingabe", hat Grüber einmal bekannt. Eine altmodische Vision vielleicht. In Zürich blieb sie Traum. Unerfüllt. Ungerettet.