«…Pace - Guerra - Amore…»

Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (16.03.2004)

Radamisto, 14.03.2004, Zürich

Bald dreihundert Jahre nach der Uraufführung kommt Händels «Radamisto» erstmals ans Opernhaus

Das Zürcher Opernhaus, wer hätte es nicht bemerkt und begrüsst, ist in den letzten Jahren zu einer Hochburg der Barockoper geworden. Die jüngste Neuinszenierung, Händels «Radamisto», schliesst da auf höchstem Niveau an: fantastisch intoniertes, fantastisch inszeniertes Musiktheater.

Die Begeisterung des Publikums zum Schluss, die Applaus-Salven für alle Beteiligten, vor allem aber für den mit viel Bravorufen bedachten Regisseur Claus Guth, für den Bühnen- und Kostümbildner Christian Schmidt sowie für den Dirigenten William Christie, nahmen demonstrative Ausmasse an. Fast hätte man sich an die Uraufführung zurückversetzt wähnen, können, am 27. April 1720 in der Londoner Royal Academy, wo Händel mit dem Posten eines «Master of the Orchestra» betraut war. «Radamisto» nämlich, seine erste Oper, die er hier vorstellte, wurde zu einem seiner grössten Erfolge überhaupt. «Radamistus, a fine opera of Handel's Making», notierte Mary, Countess Cowper, nach der Uraufführung in ihr Tagebuch, und «The King there with his Ladies.» Das ist, wie wenn heute ein Bundesrat samt Gattin die Premiere mit ihrer Anwesenheit beehren würde (und sie taten es in der Tat).

Liebe

In Zürich wurde die zweite Fassung der Oper gespielt, die Händel in seiner zweiten Londoner Saison Ende Dezember 1720 erstmals zur Aufführung brachte - neu eingerichtet für einen Star seiner Zeit, für den Kastraten Francesco Bernardi («Senesino» genannt), um neun Arien erweitert und durch die Transponierung einiger Partien in eine ganz neue Klangwelt gerückt. Trotz der Weiträumigkeit - die Zürcher Aufführung dauert wohl dreieinhalb Stunden -, zeichnet sich das Werk durch eine zügige Straffheit aus; die einzelnen Figuren resp. die Situationen, in denen sie stehen und durch die sie sich hindurch kämpfen müssen, sind musikalisch, souverän charakterisiert.

Thematisch ist dieser «Radamisto» eine ziemlich komplexe Familiengeschichte: komplex deshalb, weil die Liebe hier ihr eigenes Spiel treibt und gewisse Menschen antreibt, sich entsprechende Erfüllung zu verschaffen - koste es, was es wolle; wenn nötig auch einen Krieg. Damit wird, zusätzlich zur rein persönlichen Ebene, zu den glücklichen Paaren und den unglücklich in die Liebe Verstrickten, eine politische Dimension der Handlung geschaffen, und der Krieg zwischen Tiridate, Herrscher von Armenien, und Radamisto, der über Thrakien gebietet, steht denn auch bald vor der Tür.

Bettflasche

Faszinierend ist, wie der Regisseur Claus Guth diese persönliche und politische Ebene miteinander (und gegeneinander) ins Spiel bringt. Die zwielichtigen Politiker resp. politischen Mitläufer verstecken ihr Gesicht hinter Sonnenbrillen, der Herrscher selbst spielt standesgerecht Golf, und wenn er vor lauter Macht- oder Liebesgier ausrastet, greift er nervös zur Zigarette und gleichzeitig zu einem Tranquilizer.

Seine Gattin, von ihm schon lange hintergangen, wird über diesen Sachverhalt der ehelichen Untreue mit einschlägigen Fotos, wie sie ein Privatdetektiv schiesst, aufgeklärt. Und wenn sie dann wirklich genug hat und geht, - eine Szene, die in jeder TV-Soap vorkommen könnte -, dann packt sie während ihrer dramatischen Abschiedsarie «Barbaro, partirò» unmissverständlich den Koffer, und alles muss da rein, vom handlichen CD-Player samt Headset bis zu einer roten Plastik-Bettflasche.

Perspektiven

Eine Inszenierung also ganz aus der heutigen Zeit gedacht und von Christian Schmidt, dem Bühnen- und Kostümbildner" auch in ein heutiges Ambiente gekleidet. Für die Bühne hat er zwei herrschaftliche Räume geschaffen, je in einem Halbrund nach hinten begrenzt, und die stehen sich, die Hinterseite gleichsam gespiegelt, um 180 Grad gegenüber. Wird die (Dreh-)Bühne dann nur um 90 Grad gedreht, sieht man von seitwärts die Hinterseiten beider Räume sowie den Zwischenraum, der ebenso intensiv als Spielraum genutzt wird.

An dieser Raumkonstellation ändert sich grundsätzlich nichts. Das heisst im übertragenen Sinn, dass sich auch die Sachverhalte nicht ändern, sondern alles nur eine Frage der wechselnden Perspektive ist. Manchmal scheint die Zeit still zu stehen; manchmal läuft sie - wie die Drehbühne sich bewegt - von einem Handlungsraum zum nächsten, und die Mitspieler auf der Bühne folgen und hasten durch eine Vielzahl von Türen. Mal haben die Räume ein pompöses Aussenleben, dann wiederum zeigen sie ihr Innenleben, und alle Wände sind dann nur noch Fassade.

Ums Innenleben der Protagonisten ist es auch der Regie zu tun, um die Vielfalt (und Widersprüchlichkeit) psychologischer Perspektiven. Vielleicht am eindrücklichsten, jedenfalls am witzigsten, wird das zu Beginn des dritten Akts gezeigt: Zwei Sopranistinnen, als Herren verkleidet, da sie ja Männerrollen singen, diskutieren im Waschraum eines Herren-WCs. Sie haben definitiv genug vom grausamen Herrscher: «Pace» sprayt die eine mit Rasierschaum auf die Spiegelfront über den Lavabos, «Guerra» sprayt die andere ebenso dezidiert mit Gel, und in beiden Fällen ist letztlich - das dritte gesprayte Schlagwort - «Amore» der Auslöser, die Liebe also, die beflügelnde resp. zerstörerische.

Zum Schluss indes sind, alle wieder in Minne vereint, sitzen an der grossen, weiss gedeckten Festtafel, ein üppiges Gelage, gerade wird das Dessert gereicht, Zigaretten werden angesteckt, die Gläser erneut mit Schampus gefüllt - genau dasselbe Bild übrigens wie zu Beginn der Oper, als der Vorhang bereits während der Ouvertüre hochging: Man darf über den Sinngehalt spekulieren.

Pop-Star-Parodie

Dem ungeheuer vitalen Einfallsreichtum, wie er - optisch und szenisch-interpretatorisch - auf der Bühne waltet, entspricht die musikalische Souveränität dieser Inszenierung. Ein Glücksfall die Sängerbesetzung: Hier stimmt einfach alles; hier gibt es keine Neben-, sondern nur Hauptrollen. Marjana Mijanovic ist ein nobler Radamisto von edler Erscheinung, Mann und Frau in einem, auch stimmlich, wo ein exquisites, wunderbar sonores Alt-Timbre immer wieder mit den Facetten eines männlichen Falsettisten zu spielen scheint. Liliana Nikiteanu hat für die unglückliche Zenobia die perfekte Mischung aus dunkel glühenden und golden glänzenden, aufbegehrerischen Mezzosoprantönen.

Malin Hartelius ist als Polissena ganz grande dame: in ihrem mit stiller Zuversicht ertragenen Ehe-Leid, aber auch in den dramatischen Ausbrüchen, wenn sie einerseits genug hat und wenn sie am Schluss dennoch zu ihrem Gatten, dem Tyrannen, steht. Zudem, einen kostbareren lyrischen Sopran hört man selten. Isabel Rey, die als Sopranistin den Tigrane verkörpert, einen Handlanger und Mitläufer des Tyrannen, bringt metallischen Glanz und auch viel schauspielerische Entschiedenheit in ihre Darstellung. Elizabeth Rae Magnusen schliesslich, die als Sopran den Fraarte singt, also einen Vertrauten des Tigrane, mobilisiert neben einer stupenden Koloraturgeläufigkeit auch eine herrlich komödiantische Begabung: wenn sie die unglückliche Zenobia tröstet und, um gesteigerter Überzeugungskraft willen, vom Dirigenten eine Gitarre verlangt und flugs einen Pop-Star parodiert.

Temperament

Auch Reinhard Mayr geht in seiner Partie des Tyrannen Tiridate vollkommen auf: mit Exaltationen in Spiel und Stimme, ein Mensch, der scheinbar keine Grenzen mehr kennt oder respektiert. Und Rolf Haunstein ist ein würdiger, in seinen wenigen Auftritten sehr präsenter Fatasmane. William Christie ist für die musikalische Leitung verantwortlich, und er tut das mit ungeheurem Temperament, heizt seinen Musikern mit forschen Tempi tüchtig ein und koordiniert das bunte Geschehen auf der Bühne souverän mit den exquisiten Klangfarben im gross besetzten Orchester «La Scintilla» der Oper Zürich, welches auf historischen Originalinstrumenten spielt.

Die Partitur sprüht vor Lebendigkeit, ein Wahrhaft schillerndes Juwel. Immer wieder blitzt ein neues koloristisches Spektrum auf; eine martialische Kriegssinfonie zeigt, wie man nur in 30 Sekunden eine,ganze Bühne voll Menschen massakrieren kann. Und in Radamistos grosser Arie «Ombra cara» (die Händel neben «Cara sposa» aus dem «Rinaldo» für seine beste Arie überhaupt hielt) wird gleichsam schon die Schlüsselszene aus Glücks «Orpheus und Eurydike» im Schattenreich antizipiert. Sinnlich eloquent auch die Rezitative, die von Theorbe, Cello, Kontrabass und Cembalo ungemein «sprechend» begleitet werden. Das sitzt, ist alles wie aus einem Guss, ist fesselnd und abwechsIungsreich und gibt dem Zuschauer, der seinen feinen Spass hat, erst noch das Gefühl, alle Beteiligten hätten ebenso ihren Spass.