Händels reine Sinnlichkeit

Reinhard J. Brembeck, Süddeutsche Zeitung (16.03.2004)

Radamisto, 14.03.2004, Zürich

Helden braucht die Oper: William Christie dirigiert ¸¸Radamisto" in Zürich

Nach über dreieinhalb Stunden haben die Züricher Opernanhänger denn auch ihre Wahl in Sachen Heldentum getroffen und feiern Dirigent William Christie und Regisseur Claus Guth vor allen Sängern wie Götter. Wobei es kaum schwer fällt, die Wahl Christies nachzuvollziehen. Der seit über dreißig Jahren in Paris ansässige Großmeister vokaler Barockmusik hat den Abend von Anfang an als unumschränkter Herrscher im Griff. Er kennt seinen Georg Friedrich Händel bestens, auch wenn dessen ¸¸Radamisto" kaum jemandem geläufig sein dürfte. Was auf keinen Fall an der Qualität der fast vierzig Musiknummern oder des mit einer verwickelten Liebesintrige beschäftigten Librettos liegt.

Händel schrieb das Stück 1720 als Erstling für die im Jahr zuvor gegründete Royal Academy of Music, eine Liebhaberorganisation zur Verbreitung der italienischen Oper in London. Also gab er sich besonders viel Mühe, hatte großen Erfolg, und schaffte mit der im gleichen Jahr gegebenen Zweitfassung, für die er einige der besten Sänger der Zeit einsetzen konnte, noch einmal eine deutliche Verbesserung des Sujets.

Wenn man sieht, wie Christie mit großen Schaufelbewegungen im Orchester wühlt, wie er dämpft, fordert, beschwört, anheizt, Eleganz einklagt und dann die Blechbläser rau dreinschmettern lässt, dann fällt es nicht schwer zu begreifen, warum seit über zehn Jahren der Barock- und Händelopernboom die europäischen Theater fest im Griff hat. Dieser unmittelbar durch rhythmischen Furor überwältigenden Art von Oper ist jedes komplizierte Denken fremd. Jede Arie, und es gibt fast ausschließlich Arien, beschäftigt sich mit einer ganz klar umrissenen Gemütslage. Gerissenheit, Trauer, Wut, Triumph, Rache, Verliebtheit, Lebensüberdruss, Gier, Hass, Unentschlossenheit werden jeweils als isoliertes Einzelerlebnis behandelt und im Verlauf der Oper wie Perlen auf einer Schnur aufgereiht.

So entsteht eine leicht nachvollziehbare, wenn auch für die Librettisten durchaus nicht leicht konstruierbare Dramaturgie, die deshalb so stark wirkt, weil nie Philosophisches, sondern immer nur Gemütszustände rein sinnlich vermittelt werden. Barockoper bedeutet in ihrem klaren Aufbau eine Einfachheit, nach der sich große Teile des Publikums sehnen, nicht zuletzt angesichts der intellektuellen Kompliziertheit neuer Musik.

Doch die Barockoper fordert eigene Musikästhetik. Das haben die traditionellen Orchester und Sänger in den letzten Jahrzehnten lernen müssen. Zürich hat bei diesem Lernprozess nach wie vor die Nase ein wenig vorn. Das beweist die Existenz des auf Originalinstrumenten spielenden Orchesters La Scintilla, in Eigeninitiative der Züricher Opernmusiker gegründet - im ¸¸Radamisto" schlichtweg hinreißend: dunkel im Klang, vielleicht fast schon zu romantisch timbriert, von hoher Virtuosität.

Agilität als Lebenselixier

Seit den siebziger Jahren, seit dem legendären Monteverdi-Zyklus, der in seiner Bedeutung allenfalls noch vergleichbar ist mit dem Bayreuther ¸¸Ring" von Patrice Chéreau, arbeitet man in Zürich mit Nikolaus Harnoncourt zusammen. So hat man eingesehen, dass Barockoper eine Agilität erfordert, die der Musik seither verloren ging. Die plötzliche Attacke, die stets funkelnde, natürliche Rauheit des Orchesterklangs oder das Schwung-statt-Kraft-Prinzip, das mühelos dahinstürmende Allegro als ästhetische Grundlage und das abgrundtiefe, aber nie sentimentale oder unter psychischem Leidensdruck stehende Largo als Gegenentwurf: Diese Dinge sind mit einem modernen Orchester nur unter größten Mühen darstellbar.

Historische Instrumente sind zudem leiser als moderne. Das garantiert die grundsätzliche und für Barockoper unverzichtbare Dominanz der Sänger. Zumal sich in den letzten Jahren ein ganz neuer Typ von Sängern, speziell von Sängerinnen, entwickelt hat. Marijana Mijanovic, der Züricher Radamisto, ist das beste Beispiel dafür: eine hinreißend elegante Erscheinung, groß, schlank, kurze schwarze Haare. Ein androgyner Typ, eine Idealbesetzung für die Titelpartie, für diesen Radamisto, der um seine Frau kämpft, die ihm der Despot Tiridate mit allen Mitteln ausspannen will. Mijanovics Stimme ist nicht groß, vielleicht auch ein wenig zu gleichförmig - aber immer agil und betörend dunkel.

Solche Frauen, gerade Mezzosopranistinnen und Altistinnen, bestimmen heute mehr noch als die - allein schon zahlenmäßig unterlegenen - Countertenöre die Opernszene. Diese Frauen sind meilenweit entfernt von ihren Vorgängerinnen, die oft nicht nur stämmig wirkten, sondern auch stämmig sangen und im Breitwandsound die Opernhäuser beschallten. Heute gilt der Kult des Leisen und des Eleganten.

So dominieren denn auch die Sängerinnen in Zürich. Während die Männer, Reinhard Mayr als Despot Tiridate und Rolf Haunstein als besorgter Vater, eher durch deftige Leidenschaft auffallen. Malin Hartelius als Polissena, die Frau des Despoten, geht so pragmatisch wie tief getroffen damit um, dass ihr Mann auf Radamistos Gattin Zenobia scharf ist. Wobei Liliana Nikiteanu als Zenobia sängerisch umso stärker wird, je zudringlicher der Despot sich gibt. Immer lässt sie die Möglichkeit offen, ob ihr diese Anmache nicht doch gefällt.

Regisseur Claus Guth hat sich von seinem Ausstatter Christian Schmidt zwei ganz in Weiß gehaltene identische Apsidenunterteile auf die Drehbühne bauen lassen, die meist während der Arien in Bewegung kommt. Hierhinein inszeniert er etliche Arien als ein Innehalten in der Zeit, als einen Gedanken, der plötzlich Musik wird und aus der Handlung heraustritt. Claus Guth lässt die langsamen, von Trauer, Verzweiflung und Schmerz geprägten Arien unbehelligt sich entwickeln.

Bei den bewegteren Stücken, die für ein heutiges Publikum oft eine Art unfreiwilliger Komik entwickeln, lässt er diese Komik offen zu. So, wenn die edel gestimmte Isabel Rey und die draufgängerisch freche Elizabeth Rae Magnuson, beide männliche Parteigänger des Despoten, dessen Absetzung auf dem Klo planen. Das ist so harmlos wie nett, denn dem Abend geht es, ganz wie zu Händels Zeiten, ums pure Amusement des Publikums und nicht um intellektuelle Vergegenwärtigung. Aber auch das kann Oper sein, und die Züricher beherrschen diese vergnügliche Spielart recht vorzüglich.