Gott wohnt in Paris

Manuel Brug, Die Welt (17.03.2004)

Radamisto, 14.03.2004, Zürich

Barockopern boomen: Großmeister William Christie dirigiert in Zürich furios "Radamisto"

Der Ouvertüren-Auftakt wird gegeben, als stünde da Moses, der die Gesetztafeln erhält. Mit dramatischer Armgebärde links, abgespreizten Fingern rechts, der Mund aufgestülpt, die Augen beschwörend zielgerichtet. Freilich nicht wild michelangelesk, sondern eher in der ausgezierten Manier der französischen Bildhauerkunst à la Houdon oder Pigalle. Trotzdem erklingt unter William Christies heilenden Händen bald Italienisches: Georg Friedrich Händels arienpralles Londoner Frühwerk "Radamisto" von 1720.

Klaus Guth hat am Züricher Opernhaus den orientalischen Familienkuddelmuddel, wo jeder Potentat die falsche Ehefrau liebt und deshalb deren Gatten an die Gurgel will, reichlich schematisch in Denver/Dallas-Manier als zeitgenössische Palastintrige mit Revolver, Straps und Sonnenbrille zwischen die Türen von Christian Schmidts kühle, unaufhörlich kreiselnde Klassizismus-Apsiden gestellt. Mit der bald öden Bilderwelt aus zweiter Regiehand versöhnen - neben Marijana Mijanovics androgyn herbem Titelhelden, neben Liliana Nikiteanu, Reinhard Mayr und Malin Hartelius - vor allem die leidenschaftlich pulsierenden, dabei stets changierenden, zart ausgebreiteten, vom Dirigenten mit seinen plastischen Gebärden so bildhaft vorformulierten Klänge aus dem Orchestergraben.

William Christie geht dieses Mal fremd. Das öffentlich, mit Wonne und immer öfter. Steht er doch mitnichten vor seiner eigentlichen Orchestergattin, der französischen Elitetruppe Les Arts Florissants (oder: Les Arts Flo'), sondern vor der mit Hingabe aufspielenden Barockabteilung des Zürcher Opernorchesters mit dem klingenden Namen La Scintilla. Bereits eine vertraute Geliebte, zum vierten Mal wohnt Christie ihr bei. Nach zweimal Gluck und einmal Rameau heißt die Liebesübung diesmal "Händel-Wippe".

Auch bei den Berliner Philharmonikern war er auf Einladung seines großen Fans und Freundes Simon Rattle bereits untreu - mit bekannt wundervollen Folgen (und ist es nächste Spielzeit wieder). Promisk ist der Amerikaner in Paris zudem mit dem englischen Orchestra of the Age of Enlightment, in Glyndebourne besonders; und sogar mit dem gar nicht so treudeutschen Gewandhausorchester treibt er es barockbunt. Es scheint so, als habe der 59-jährige William Christie augenblicklich den Höhepunkt seiner (künstlerischen) Zeugungskraft erreicht.

So gilt der fragile aber zähe, liebenswürdige, aber auch ausgesprochen arrogant auffahrende Orchesterzuchtmeister längst als einer der Schlüsselfiguren einer Welle, deren Kraft und Fülle keiner je zu ahnen vermochte. Im Herzen der früheren Finsternis, in Paris, wo alle diese Noten unentdeckt in Archiven schlummerten, ist Christie diese Saison gleich an drei Theatern, im Palais Garnier, im Châtelet und im Théâtre du Champs Elysées, präsent. So paaren sich heute auf das Feinste die neue Lust auf Händel, Gluck, Lully, Cavalli und Konsorten, auf klare, unkompliziert emotional fassbare Klänge inmitten einer komplexeren Welt mit den Erkenntnissen moderner Dirigenten, die für ihre Klangkörper auf musikalische Früherziehung durch strenge, aber kommunikative Spezialisten dringen.

Das alles begann für William Christie 1979 im noblen Hofhaus eines der feineren Pariser Bezirke. Hohe, helle Wände, Flügeltüren, blauweißes Porzellan, Zeichnungen mit Männerakten und Stiche, Oberlichter, wenige alte Sitzmöbel, ein reich verzierter Notenständer, ein japanisch bemaltes Cembalo. Hier saß man in den Vorarbeiten für ein neues Projekt seines in acht arbeitsintensiven Pariser Jahren zusammengeführten Orchesters mit dem komplizierten Namen "Ensemble baroque vocal et instrumental de l'Ile de France". Es sollte eine kleine Oper von Charpentier werden, ein "idyll musical" mit dem vieles verheißenden Titel "Les Arts Florissants". Plötzlich war es der Name der eigenen Truppe. "Nichts war Berechnung, es hat sich organisch entwickelt. Wir wussten damals gar nicht, dass wir an der Spitze einer neuen Bewegung standen", erinnert sich Christie mit porzellanhaft durchscheinender Stimme, die am Satzende nie abfällt, das Gesagte in graziösem Schwung schweben lässt. "In Deutschland war in Sachen Alte Musik tote Hose, in Frankreich war es nicht besser, die Zentren waren London und Amsterdam."

Dass er nach Paris kam war Absicht, dass er dort bleibt, Bestimmung. Gebürtig aus Buffalo, hatte Christie seine Studien und erste Lehrzeit in Yale und Harvard verbracht. "Es war Krieg in Vietnam, das geschlossene Uni-Leben ging mit aufs Gemüt. So wollte ich nicht weiter machen, ich wollte in ein lateinisches Land wechseln." Europa lockte, erst mit seine Sabbatical, seit 33 Jahren für immer. "Damals war alles frei, es gab keinen Stil, keine Praxis, nur unbändige Lust auf Neues. Deswegen spielten wir konsequenterweise nur Musik des 17. Jahrhunderts - und Zeitgenossen, wie Bussotti, Berio, Donatoni, Foss, Feldman. Wir machten Musik für den Moment, das gefiel, und so ging es immer weiter. Wir waren gut und wollten besonders das französische Repertoire pflegen. Wir hatten einfach Spaß daran. Konzerte ergaben sich, eine rege Aufnahmetätigkeit begann. So freundeten wir uns langsam mit einem längeren Leben an."

Les Art Florissants unterstützte dieses Streben dann institutionell, Subventionen kamen für das völlig frei arbeitende Unternehmen dazu. Das Orchester aus unabhängigen Musikern und der sublime Chor vergrößerten sich mit den Projekten. Heute arbeiten zwölf Leute in der Verwaltung, organisiert oft die Tourneen selbst, hat eigenes Notenmaterial, eine umfangreiche Bibliothek. "Les Arts Flo' sind nach wie vor ein wunderbares Abenteuer." So mancher heutige Starsänger wie etwa Sandrine Piau hat sich vom Chor bis in die erste Reihe gesungen. Christie hat solche Talente in kaum zählbaren Auditions aufgepickt, unermüdlich Begabung geformt auch in seine Jahren am Pariser Conservatoire von 1982 bis 1995, sie sich treu gehalten: "Ich besitze Künstler nicht, aber ich arbeite gern in kontinuierlichen Beziehungen, so ist über die Jahre unser Sänger- und Instrumentalistenstamm gewachsen." William Christie hat Monteverdi und Händel aufgeführt, sich bis zu Mozart und Haydn entwickelt: "Das war lange vorbereitet, aber weiter will ich nicht vordringen, da würde ich meine Ideale verraten." Doch sein Schwerpunkt ist die Musik der Grande Nation des 17. und frühen 18. Jahrhunderts. "Frankreichs Kultur, Geschmack, Harmonie, Sprache, Form, Disziplin, Ordnung war schon seit meiner Kindheit mein Traum", erzählt Christie zögerlich. Trotzdem gibt es unerfüllte Träume: "Ein kleiner, feiner ,Tristan', so wie in Glyndebourne, so erotisch, farbensatt, sublim. Das habe ich geliebt, ich war richtig eifersüchtig."

Anderes geht vor. Der Name seines jüngsten Vokalprojektes "Jardin des Voix" verrät es, Christie ist auch ein passionierter Gartenliebhaber, natürlich der strengen, die Natur veredelnden französischen Spielart. Bei Nantes liegt das Objekt dieser Begierde. Mehr als 70 Plattenaufnahmen, die fast alle noch in den Katalogen stehen, sind hingegen seine stolz vorgeführten Kinder. Anders als viele Mitstreiter in der Bewegung hat er bis heute nicht die Flamme verloren. Man meint sie wie eine Aureole zu spüren, wenn William Christie in Zürich glückstrahlend und schweißüberglänzt den freudig erregten Beifall entgegennimmt.