Fausts Träume von Parma und Helena

Oliver Schneider, DrehPunktKultur (25.09.2006)

Doktor Faust, 24.09.2006, Zürich

Während Klaus Michael Grübers szenische Umsetzung von Busonis "Doktor Faust" nur bedingt die Erwartungen erfüllte, leistet das Opernhaus-Orchester unter der Leitung von Philippe Jordan einmal mehr Beachtliches.

Derweil man sich andernorts im September mit zwei Wiederaufnahmen begnügt, trumpft das Zürcher Opernhaus mit vier Premieren auf. Nach einem Mozart-Ballettabend, "La finta semplice" in Winterthur und einem Doppelabend "Il segreto di Susanna"/"Gianni Schicchi" ging am Sonntagabend (24.9) Busonis schwer zugängliches Werk über die Bühne. Erste Skizzen entstanden 1910, die Uraufführung fand 1925 nach Busonis Tod statt.

Busoni, der sowohl für die Komposition als auch das Libretto die Verantwortung trägt, orientierte sich dabei weniger an Goethe als vielmehr am Puppenspiel. Als Sohn einer deutschstämmigen Mutter und eines italienischen Vaters war Busoni während des Ersten Weltkriegs zum unfreiwilligen Exil in Zürich gezwungen. Seine Heimatlosigkeit und Isolation spiegeln sich im "Doktor Faust", denn Busoni nutzte die Oper für ein Selbstporträt.

Dem gesellschaftlich isolierten Menschen bleibt nur die Flucht in eine Traumwelt. Hier setzen Regisseur Klaus Michael Grüber und seine Mitarbeiterin Ellen Hammer an und lassen die Oper als Traumreise in Fausts Kopf ablaufen. Die ersten beiden Szenen des Vorspiels spielen in seiner Studierstube, die von überhohen Regalen begrenzt wird. Flasche an Flasche stehen dort allerlei chemische Flüssigkeiten, denen schon ob ihrer Farbenvielfalt etwas Fantastisches anhaftet. Die drei Studenten aus Krakau, die Faust statt des ersehnten Buchs Clavis Astartis Magica eine Figur für die Teufelsbeschwörung überreichen, wirken mit ihren maskenhaften Gesichtern und ihren steifen Bewegungen wie Puppen. Und dies gilt nicht nur für sie, sondern auch für die Hofgesellschaft im Hauptspiel in Parma. So stellen Grüber und Hammer immer wieder den Bezug zum Puppenspiel her.

Auch die Kostüme von Eva Dessecker knüpfen an das Puppenspiel an: hier die einfachen dunklen Kostüme von Faust und Mephistopheles mit roten Handschuhen als teuflischem Attribut, da die prachtvollen, glitzernden Kostüme der italienischen Hofgesellschaft. Die düstere Studierstube weicht im Parma-Bild einem mit gewaltigen Kronleuchtern erleuchteten Saal (Bühnenbild: Eduardo Arroyo). Die halbdunkle Schenke mit den prall gefüllten Regalen, als ob man sich in einer Abstellkammer befände, und die nächtliche Strasse in Wittenberg bilden wieder den Gegenpol zum lichten Italien.

Die gelungene Szenerie böte den passenden Rahmen für eine überzeugende Regie. Doch daran hapert es. Und das liegt nicht daran, dass sich die Krakauer Studenten, die Herzogin und der Herzog von Parma sowie ihr Hofstaat wie Puppen bewegen. Etwas wie Personenführung ist über weite Strecken in dieser Produktion inexistent. Zum Glück gibt es Übertitel, so dass sich das Geschehen erschließt. Fausts Träumereien (Thomas Hampson) beschränken sich auf gewohntes Rampensingen. Lediglich in der Schlussszene, in der ihm die Herzogin sein totes Kind übergibt und er zu dessen Gunsten aus dem Leben scheidet, verleiht Thomas Hampson dem Faust ein gewisses Profil. Zu spät, zumal er auch stimmlich am Premierenabend nicht so souverän wie gewohnt wirkte.

Zum Glück haben Grüber und Hammer nicht auch den Mephistopheles (Gregory Kunde) zur vollkommenen Statik verurteilt. Quirlig spielend sorgt er dafür, dass der Abend nicht gar so zähflüssig abläuft. Zudem bewältigte er am Sonntag die extrem hohe Lage und die enormen Intervallsprünge ohne einen Anflug von Mühe, so dass seine Auftritte zu vokalen Höhepunkten wurden. Aus dem rollendeckend besetzten Ensemble ragte noch Sandra Trattnigg als Herzogin mit ihrer Arie trotz einiger Schärfen hervor. Die von Jürg Hämmerli einstudierten Chöre sangen auf unterschiedlichem Niveau: tadellos die doppelchörige Auseinandersetzung der Katholiken und Protestanten in Wittenberg, dürftig vor allem die Damen am Hof von Parma.

Rundherum überzeugend war jedoch die Leistung des Orchesters unter der Leitung von Philippe Jordan, was nach dem unerwarteten Tod seines Vaters keine Selbstverständlichkeit ist. Jordan waltet mit Sinn für den grossen Bogen und wurde so der Vielfalt des Werks gerecht. Die mangelnde Spannung auf der Bühne wird durch den farbenreichen Klang aus dem Graben wettgemacht. Warum Jordan sich aber entschied, das Fragment mit dem spätromantischen Schluss von Philipp Jarnach, einem Schüler Busonis, zu beenden, bleibt ein Rätsel. Anthony Beaumont hat in den achtziger Jahren aus Skizzen von Busoni einen neuen Schluss komponiert. Dieser wirkt zwar spröder, korrespondiert aber besser mit dem Wiedergeburt-Gedanken als der retrospektive Jarnach-Schluss. Pro von letzterem: er ist effektvoller.

"Doktor Faust" bleibt schon allein wegen des altertümlichen Texts und des starken Bezugs auf die Biographie des Komponisten ein Werk abseits des gängigen Repertoires. Ein anderes Werk, dessen Uraufführung auch 1925 stattfand, hat es in diesen Kanon geschafft: Alban Bergs Wozzeck. Warum wohl?