Herbert Büttiker, Der Landbote (15.12.2003)
Nicht nur der Kalauer lässt zu «Elektra» Hochspannung assoziieren. In Zürich sorgen dafür weniger Martin Kusejs Inszenierung als das von Christoph von Dohnanyi geleitete Orchester und Sängerensemble.
Rache ist süss. Wie süss, macht Strauss deutlich, der dieses Gefühl im Klangrausch und im aufpeitschenden Rhythmus seiner Musik in die Extreme treibt. In der Ekstase der tanzenden Elektra wird es ausgekostet – und zur verstörenden oder auch fragwürdigen Lusterfahrung eines zivilisierten Publikums. Wie vollständig der Tabubruch dieser Enthemmung ist, zeigt die Tatsache, dass im Taumel für den Wahnsinn des Orest, der eben seine Mutter erschlagen hat, musikalisch kein Platz ist: Zu Schweigen und Tanzen ruft Elektra auf.
In der neuen Zürcher Inszenierung ist in diesem Tanzfinale Samba angesagt (engagiert wurde die Baila Brasil Show), Orest erscheint in gekrümmter Haltung und mit entgeistertem Blick, und auch Elektra erstarrt zu trotziger Haltung, die an ihren Auftritt in der ersten Szene erinnert. Damit ist einiges zurückgenommen: was Orest betrifft, die Herrlichkeit der Tat; was Elektra betrifft, der Gipfel der befreiten Lebenslust im «verzückten» Tod; und was das Ganze betrifft, mit dem Tanz als blosser Showeinlage die Devise, die Elektras Schwester Chrysosthemis ausgibt: «Es fängt ein Leben für dich und mich und alle Menschen» an. Die Zurücknahme bedeutet freilich auch Unschärfe. Der Fatalität dieses Versprechens wäre in der Epoche der Uraufführung (1909), wenige Jahre vor dem Ausbruch des Weltkriegs, historisch genau zu verorten und in der Euphorie, die politische Umstürze begleitet (oder ermöglicht), auch aktuell zu begreifen – vielleicht direkter zu begreifen, wenn der Schauplatz – zeitgenössisch oder mykenisch oder beides – nicht nur expressiv, sondern auch realistisch, nicht nur psychologisch, sondern auch politisch wäre.
Das ist hier weniger eine Frage des Bühnenbildes – Rolf Glittenbergs weit in die Tiefe führender Korridor mit den seitlichen Türen , halb Innen-, halb Aussenraum, ist architektonisch klar und von suggestiver Wirkung – als der Erzählung. Martin Kusejs Regie gestaltet sie im zentralen Figuren-Fünfeck greifbarer als im weiteren, eben politischen Umfeld desGeschehens. Was die Statisterie in verschiedenen traumartig verrätselten Auftritten pantomimisch aufführt, in einer Choreografie sexueller Obsessionen und neurotischer Zwänge, in die auch die Nebenpartien der Mägde und Diener einbezogen sind, wirkt bei aller Entblössung allzu diffus und wohl auch allzu ästhetisierend, als dass es auch unter die Haut ginge.
Ein mutiger Blitzbesuch
Überträgt sich die Glätte auch auf die eigentlich doch alles Mass sprengenden Figuren im Zentrum des Stücks, Elektra und ihre Mutter, Klytämnestra? Die Antwort ist schwierig, denn zunächst sind ganz andere Faktoren zu berücksichtigen. Die Hauptdarstellerin Eva Johansson ist kurz vor der Aufführung erkrankt. Der Name einer Einspringerin konnte zwar im Programmheft noch gedruckt werden, aber am Premierentag reiste erst die Sängerin an, die dann am Abend tatsächlich auf der Bühne stand: die junge Amerikanerin Janice Baird, die seit einigen Jahren in grossen dramatischen Partien zwischen Isolde und Turandot Erfolg feiert und gegenwärtig gleich in allen drei Brünnhilde-Partien des «Rings» in Düsseldorf auf der Bühne steht: welch ein mutiger Blitzbesuch!
Um sich in die Inszenierung einzuarbeiten, blieb für Janice Baird natürlich kaum Zeit, aber Kusejs Konzept (das sportlich-trendige «Kostüm» mit dunkler Hose und farbiger Kapuzenjacke weist in diese Richtung) will wohl auch keine entfesselt agierende Elektra, sondern bloss eine junge Frau von heute. Von einer Erscheinung, die Orest von den furchtbaren Augen und den hohlen Wangen sprechen lässt, war die Einspringerin, als ob die Zeit für die Maske nicht gereicht hätte, aber doch zu weit entfernt, und die masslose Energie der Figur war eher die Sache einer im weiten Umfang wohl nicht grossen, aber ausdrucksstarken und stabilen Stimme als des Spiels. «Von der aller hochdramatischsten Sängerin» wollte Strauss die Elektra dargestellt haben. Diese ist Janice Baird gewiss (noch) nicht, aber abgesehen von der unglaublichen Leistung, die der Ad-hoc-Einsatz in dieser monströsen Partie an und für sich schon bedeutete, war ihre Elektra auch in den Momenten stimmlicher Parforce sehr präsent und zumal in den grossen Duett-Szenen musikalisch wie darstellerisch reich schattiert und eindringlich gezeichnet.
Ein starkes Ensemble
Die Aufladung der grossen Duett-Szenen durch profilierte Partner kam der Titelheldin entscheidend entgegen: Melanie Dieners im Stimmcharakter ihr ähnliche, im Lyrischen intensive Chrysosthemis, Eva Lipovseks deklamatorisch und darstellerisch wuchtige, musikalisch gefasste Klytämnestra, Jukka Rasilainens herb-dunkler Orest und Rudolf Schaschings pointierter Aegisth – ein starkes Ensemble, in dem Melanie Dieners überzeugendes Rollendebüt hervorzuheben ist und das mit der Nennung einer Vielzahl kleinerer Partien (Irene Friedlis 3. Magd und Andreas Winklers junger Diener seien erwähnt) zu ergänzen wäre.
Und schliesslich waren da als ihnen allen gemeinsamer Partner der Dirigent Christoph von Dohnanyi und das Orchester, dessen präzise Klarheit bei diesen Umständen für die Sänger besonders zählte. Vor allem aber bot sich in der überlegenen Dosierung, die von der Hochspannung des Sottovoce (die Mordszene) bis zur straffen Fortissimo-Entladung reichte, dem Hörer ein Bild der Partitur von packender Zwangsläufigkeit in jedem Moment. Die Schärfe der Dissonanzen liess ebenso aufhorchen wie die gleitende Weichheit der typischen Strauss-Kantilenen, die grossen Effekte des Blechs waren so dezidiert wie die vielen blitzenden Einsprengsel der Holzbläser.
Psychische Polyphonie
Wie Dohnanyi den Riesenapparat des «Elektra»-Orchesters sowohl zu seinem Recht kommen liess als auch mit Blick auf die Bühne zähmte, bewährte sich in grossartigen Momenten musikalischer Dramaturgie. So, um nur einen der Höhepunkte des Abends überhaupt zu erwähnen, in der Wiedererkennungsszene: die ruhig angelegte Steigerung auf den Moment, in dem Orest sich zu erkennen gibt, dann die sich mit dem Fortissimo-Einsatz ausbrechende Orchestergewalt, die als Höhepunkt dessen zu bezeichnen ist, was Strauss selber «psychische Polyphonie» nannte, schliesslich die weitatmige Moderato-Ruhe voller innerer Bewegung, in der sich Janice Bairds Sopran mit Wärme verströmt bis zum As des «Dann sterb' ich seliger als ich gelebt».