Reinhard J. Brembeck, Die Südostschweiz (16.12.2003)
Martin Kusej gehört heute zu den gefragtesten Regisseuren, was in seiner Zürcher «Elektra» ansatzweise nachvollziehbar wurde
Ich habe mir für einmal den Spass gemacht, nichts von dem zu lesen, was in den Programmheften und Opernhaus-Zeitungen über die Regie zu erfahren wäre, und gewagt, einfach hinzuschauen. Das Ergebnis ist ziemlich aufschlussreich: Zu verstehen war nicht gerade viel von dem, was uns diese Inszenierung von Martin Kusej allenfalls mitzuteilen gehabt hätte.
Die Frage nach dem Warum
Warum all diese Leute mal in Weiss, mal in Grau und mal in fast nichts über die Bühne hasten, war ebenso wenig nachzuvollziehen, wie das kleine Kind im weissen Kleidchen, das sich einmal in die Arme Elektras flüchtet. Warum Samba getanzt wurde war genauso kryptisch wie die Tatsache, dass Elektra am Ende mit dem Revolver auf Aegysth zielt, aber doch nicht abdrückt, und warum - ein recht grosser Eingriff in das Stück - warum am Ende Elektra auf dem Höhpunkt ihres Racherausches nicht stirbt wie das Sophokles, Hoffmannsthal und die Götter doch so vorgesehen haben.
Irrenhaus und Traumwelt
Zwischen Irrenhaus und Traumwelt schillert diese Inszenierung, und dass sie nicht so ganz nachvollziehbar war, heisst nicht, dass sie nicht spannend gewesen wäre. Schliesslich stellt das Rätsel, und die Ungewissheit und die Frage nach dem Sinn schon ein Element von Spannung dar, und wenn Kusej Elektras tanzenden Triumph in die märchenhafte Pracht einer veritablen Sambaschule einmünden lässt, dann spricht die pure Schönheit dieses Reigens für sich selbst. Auch sonst fand der österreichische Regisseur viele atmosphärisch dichte Bilder und nutzte den klaustrophobischen, lichtlosen Bühnenraum von Rolf Glittenberg zu kräftigen Szenerien. Und darüber hinaus: «Elektra» wäre auch auf einer rabenschwarzen Bühne, ohne Licht und Kostüme ein atemberaubender Spannungs-Strudel, und wenn dann ein Dirigent wie Christoph von Dohnányi den Taktstock führt, dann wird die vielleicht aufgewühlteste Partitur der gesamten Operngeschichte zu einer veritablen Kaskade an Emotionen und Leidenschaften.
«Elektras» Schwester, die «Salome», dirigierte Valery Gergiev vor ein paar Jahren in Zürich, und es war interessant, die beiden Dirigenten zu beobachten. Gergiev war irrlichterndes Chaos, funkensprühende Intensität ohne den Hauch eines Pulses oder einer klaren Ordnung. Dohnányi schlug selbst im grössten Orchestergetümmel die Einsätze ohne grosse Geste und mit exemplarischer Deutlichkeit. Seine Botschaft an die Orchestermusiker hiess: «Ich weiss genau, was du spielst, also reiss dich zusammen.» Eine Herausforderung, vor der sich dieses Orchester auf seinem heutigen Niveau in keiner Weise fürchten muss, aber alle sassen sie auf den Stuhlkanten und ermöglichten so die unwiderstehliche Kombination von höchster Präzision und glühendster Leidenschaft. Dohnányi kennt das Stück nicht nur, er durchleuchtet es bis in die letzten Winkel und holt das Letzte heraus, was Strauss in seiner wohl genialsten Partitur an Raffinessen eingestreut hat.
Dank Dohnányi sind die Fallhöhen zwischen schneidend scharfen, erbarmungslos exekutierten Akzenten und den zuckersüssen Harmonien (ja, auch die gibts in «Elektra», Strauss ist sich doch nicht untreu geworden!) so hoch, wie man sich das nur wünschen kann.
Trotz der kurzen Dauer der Oper ist die Titelpartie eine der anspruchsvollsten für einen dramatischen Sopran überhaupt. Deshalb kam es einer Katastrophe gleich, als Eva Johansson nach der Hauptprobe wegen Krankheit ausfiel. In einer Feuerwehrübung fand das Opernhaus schliesslich eine Sängerin, die es wagte, von einem Tag auf den anderen mit dieser horrenden Partie in diese schwierige Inszenierung hineinzuspringen: Die Amerikanerin Janice Baird. Ihr Mut wurde belohnt, sie war eine hinreissende und bei aller Monströsität anrührende Elektra.
Die Klippen gemeistert
Bairds Timbre ist nicht ganz nach meinem Geschmack, zu dunkel sind ihre Farben, zu gleichförmig klingen ihre Linien. Zudem ist ihr Volumen deutlich begrenzt, sie hat keine Chance über Dohnányis Orchester hinwegzukommen, wenn er - nicht sehr oft, aber dann mit elektrisierender Vehemenz - das Fortissimo auslotet. Aber Janice Baird machte diese Nachteile wett mit ihrer Klarheit der Linienführung, ihrer makellosen Intonation und der Vielfalt ihrer dynamischen Schattierungen. Die Erkennungsszene war von berührender Intensität.
Dass Janice Baird darstellerisch praktisch dieselbe Bühnenpräsenz wie ihre Kolleginnen aufbauen konnte, spricht nicht gerade für deren schauspielerisches Talent. Tatsächlich waren sowohl Marjana Lipovsek als Klytämnestra und Melanie Diener als Chrysothemis eher blass gezeichnete Figuren. Lipovsek immerhin konnte dieses Manko wettmachen durch ihren wirklich packenden Gesang, ihre stimmliche Ausdruckskraft und technische Beherrschung der Partie. Diener dagegen blieb auch sängerisch eher blass, trotz einiger schön gestalteter Linien.