In der Mitte und doch daneben

Susanne Benda, Stuttgarter Zeitung (18.12.2003)

Elektra, 13.12.2003, Zürich

Martin Kusej inszenierte Richard Strauss" "Elektra" im Zürcher Opernhaus

In der Mitte und doch daneben

Ist Hugo von Hofmannsthals Elektra ein pathologischer Fall? Ja, sagen viele Regisseure, wenn sie sich Richard Strauss" Oper über das Libretto des Dichters annehmen - und stilisieren die Frau zu einer Hysterikerin, die es manisch nach Rache gelüstet. Nein, sagen wenige andere - und erklären Elektra schlicht zum trauernden Opfer einer lieblosen, gewalttätigen Gesellschaft.

Ich weiß nicht recht: Das ist die Antwort, die Martin Kusej mit seiner Neuinszenierung des Stücks an der Zürcher Oper suggerierte. Seine Elektra nämlich hat beides: Sie ist Trost suchende Trauernde ebenso wie jenes wahnsinnige, wilde Weib, das nach dem Beil des Vaters sucht, um damit zu morden.

Bewusst will Kusej offen lassen, wohin der Weg seiner Heldin nach dem Vollzug der ersehnten Bluttat führen wird. Am Ende der Oper steht Elektra bei ihm an demselben Ort, wo sie am Anfang schon stand: eine Frau im Kapuzenpulli, die starr zu Boden blickt. Nadine Secunde singt sich mit Anstand, aber auch mit einiger Mühe in der Höhe durch die intensive Partie; an ihr, die als Einspringerin die B-Premiere übernahm, mag es mit liegen, dass der Eindruck des allzu Lauen und Unentschiedenen auf den Bildern des Abends lastet. Kusejs dezente Halbnackte, die sich erst als Dienerschar und schließlich als Internierte einer Irrenanstalt über die Bühne robben oder mit spastischen Bewegungen schleppen, gehören ebenfalls jenem mittleren Weg an, den der Regisseur gesucht und für sich gefunden hat.

Dass die neue Zürcher "Elektra" dennoch packend wirkt, liegt nicht zuletzt einfach daran, dass sich ihre Klänge und Strukturen zu einem zwingend durchorganisierten theatralischen Ganzen fügen. Christoph von Dohnányi am Pult des Opernorchesters formulierte die Schroffheiten der Partitur lustvoll aus, stellte den kantigen Glanz der Bläserakkorde gegen die weichen Reminiszenzen, welche die Streicher dem Agamemnon entgegenbringen. In dem engen, dunklen, nach hinten zu sich verjüngenden Kasten, den Ralf Glittenberg als Palast auf die Bühne gestellt hatte, konnten vor allem Melanie Diener als sehr klar und ausdrucksvoll gestaltende Chrysothemis und Marjana Lipovsek als gestenreiche und stimmlich erfreulich vitale Klytämnestra überzeugen.

Nach knapp zwei Stunden, die etwas kryptisch mit dem Auftritt einer brasilianischen Sambatruppe enden, war das Ganze dann vorbei. Die mittlere Dynamik des Beifalls entsprach dem Eindruck, den die Bilder des Abends zurückließen: Wer die Mitte wählt, kann offenbar auch einmal danebenliegen.