Karl Harb, Salzburger Nachrichten (16.12.2003)
Christoph von Dohnányi und Martin Kusej zeigen "Elektra" von Strauss in Zürich in klarsten Bildern als Mythos von erschreckender Gegenwärtigkeit.
Elektra wartet. Sie wird den Mord an ihrem Vater Agamemnon rächen, den ihre Mutter Klytämnestra und ihr Buhle Aegisth verbrochen haben. Orest, ihr Bruder, soll ihr starker Arm sein. Als die Nachricht kommt, Orest sei tot, sucht sie selbst das Beil, um ihre Tat auszuführen, die Todeshalluzination in den realen Tod überzuführen.
Chrysothemis kneift. Elektras Schwester will ganz als Frau leben, einen Mann und Kinder kriegen. Zwischen dem Vorhof, wo Elektra lebt, und dem Palast der Angsttraum-Ausschweifungen ist Chrysothemis Botin, Mittlerin. Sie sieht mehr als ihre Schwester - und hat im entscheidenden Augenblick doch nicht die Kraft zur Tat.
Klytämnestra träumt. Sie hat Albtraumgesichte. Es verfolgt sie die begangene blutige Tat. Der Elektra-Realität kann sie nicht ins Auge sehen. Ihr bleibt verschlossen, was die zur Rache Entschlossene auszuführen gedenkt. Ihre Erlösung wä-re, wenn Orest wirklich tot wäre. Aber das ist irrwitzige Verkennung der Tatsache.
Denn Orest kommt. In Martin Kusejs Zürcher Neuinszenierung, die am Samstag Premiere hatte, erscheint er mit blonder Perücke, in Frauenkleidern über seinen eigenen. Erst im Erkennen wird er selbst erkennbar: der Tat-Mensch. Wer aber ist er? Nachdem er den Hof "gesäubert" hat, steht er im gleißenden Licht mit verzerrtem Gesicht, den Todes-Arm umkrampfend. Er steht mitten unter lauter lebenden Toten, starr und weiß. Weiß ist die Farbe des Todes.
Kusejs "Elektra"-Inszenierung handelt von Blut, Tanz und Tod. Graue, spitz nach hinten zulaufende Mauern mit einer Türenflut und schmalen Oberlichten begrenzen den Raum, dessen unebener, welliger Boden mit Filz bedeckt ist (Bühnenbild: Rolf Glittenberg). Hinter den (gepolsterten) Türen ist der Palast zu denken. Kaltes Neonlicht. Scharfe Lichtwechsel. Schlag-Lichter. Kusej erklärt nicht, psychologisiert nicht, moralisiert nicht. Er zeigt nur: die Ungeheuerlichkeit des Mythos. Dabei ist kein Tropfen Blut zu sehen, bis auf eine kleine, aber präzise Geste am Ende der Mägdeszene: Da putzt eine der Mägde mit einem blutigen Lappen kurz einen Türpfosten. Auch der Tanz, die Ekstase sind nur angedeutet. Surreal, als Traumvision a` la Brasil Tropical. Und der Tod ist nicht dunkel, sondern hell, kalt, weiß. So setzt Kusej seine Bilder: überwältigend in ihrer schlichten Genauigkeit, in grausamer, gnadenloser, analytischer Klarheit.
Das emotionale Zentrum ist die Musik
Das emotionale Ereignis liegt in der Musik. Im vergleichsweise kleinen Raum der Zürcher Oper schafft Christoph von Dohna`nyi ein Wunder aus kapitaler Energie, Klangdichte, Übersicht und fulminant geschärften Details. Er führt die Ereignisse der Partitur jederzeit am straffen Zügel, ohne dem Klang Fesseln anzulegen. Die Genauigkeit der Partiturauslegung begründet die große Geste - nicht umgekehrt; aufregend kühn und vom Orchester phänomenal gestaltet.
Am Tag der Premiere musste Janice Baird als Elektra einspringen. Der Outcast im lässigen Look mit Kapuzen-Shirt und Skaterhose (Kostüme: Heidi Hackl) passte ihr trotzdem wie angegossen. Ihre vokale Leistung war imponierend. Mit Melanie Dieners wunderbar fraulicher Chrysothemis harmonierte sie bravourös. Marjana Lipovsek hat man als Klytämnestra oft gesehen, aber vielleicht kaum je so erschreckend präsent: königlich und jämmerlich hilflos in einem, würdevoll und zerstört, hell und irr zugleich.
Die Männer spielen kaum eine Rolle, aber Jukka Rasilainen als Orest und Rudolf Schasching als Aegisth erfüllen ihre Partien momenthaft auf den Punkt genau und klar. Und beglaubigen mit allen anderen eine Aufführung, die den Mythos zeitlos vergegenwärtigt.
Frenetischer Jubel für alle. Zürich zeigt einen Strauss-Abend, der in solcher Intensität Salzburg seit langem fehlt.