Urs Mattenberger, Neue Luzerner Zeitung (27.11.2003)
Die Zürcher «Meistersinger» sind unter Franz Welser-Mösts Leitung eine Sängeroper, wie sie im Buch steht.
Wagners «Meistersinger» liefern ein schlagendes Argument dafür, wieso man Repertoire-Opern immer wieder neu inszenieren sollte. Denn die Geschichte des Ritters Walther von Stolzing, der mit seiner neuen Gesangskunst die altehrwürdige Meistersinger-Zunft in Nürnberg durcheinanderbringt und dafür als Preis die geliebte Eva gewinnt, hat Wagner zwar kompositorisch und dramaturgisch meisterhaft umgesetzt. Aber die pathetische Beschwörung deutscher Werte eröffnete dem Missbrauch durch die Nationalsozialisten alle Tore.
Diese Irritation kann allein durch philologische Erklärungen nicht aus der Welt geschafft werden, wie sie Udo Bermbach im Programmheft zur Zürcher Neueinszenierung liefert. Er führt zwar aus, dass Wagner bewusst die Politik ausklammerte, weil in seiner Utopie an deren Stelle die Kunst trat. Und er weist darauf hin, dass gerade diese Absenz des Politischen den politischen Missbrauch ermöglichte.
Nicht Kunstnationalismus, sondern das Primat der Kunst vor der Politik: Deutlich machen müsste aber all das die Regie selbst. Nikolaus Lehnhof scheint da tatsächlich anzuknüpfen, wenn er Wagners Nürnberg zum Modell einer «europäischen» Kulturvision umdeuten wollte. In der Inszenierung selbst allerdings erschöpft sich das in einem Pluralismus der Stile und Kostüme: Moidele Bickel und Amélie Haas bieten eine Art Modeschau vom Renaissance-Wams über Biedermeier-Gehröcke bis zum modernen Freizeitlook.
Bildstarke Ansätze ergeben sich daraus erst im letzten Akt: die wie zum Müllhaufen versammelten Bücher Sachsens sind nicht nur Zeichen dafür, dass Innovationen Stoltzings das hergebrachte Wissen entwerten und erinnern von Ferne an die Bücherverbrennungen der Nazis. Greifbar wird die gesellschaftliche Auflösung danach auf der Festwiese, wo die verschiedenen Zeitebenen sich gespenstisch durchdringen.
Grossartiges Ensemble
Für eine griffige Deutung des Werks kommt das zu spät. Tatsächlich scheint Lehnhoff seine ganze Fantasie auf die Figurenregie konzentriert zu haben. Die Rechnung geht auf, weil hier ein exzellentes Sängerensemble versammelt ist, das zwar weit gehend konventionell, aber überaus lebendig agiert. Vokale Glanzlichter setzen Peter Seiffert, der als Naturbursche Stoltzing seinen schwereren, aber immer noch geschmeidigen Tenor zu verschwenderischer Kraft und Fülle steigert.
Ebenbürtig zur Seite stehen ihm der imposante Bass von Matti Salminen (Pogner) und der Bariton von Michael Volle, der den Beckmesser nicht als pedantischen Traditionshüter karikiert, sondern mit energischer und facettenreicher Stimme aufwertet. Der leuchtkräftige Sopran von Petra-Maria Schnitzer (als szenisch farblose Eva) und der schlank gespannte Tenor von Christoph Strehl (David) fügen sich stimmig in ein Ensemble ein, das bis in die Nebenrollen das hohe Niveau wahrt.
Die Überraschung ist der Hans Sachs von José van Dam. Obwohl das Orchester die Partitur nach allen Seiten hin ausleuchtet und auflichtet (ein weiteres Wagner-Meisterstück von Franz Welser Möst), vermag sich van Dams Bariton nur unzureichend durchzusetzen. Aber er deutet stimmig diesen Sachs von Beginn weg in abgeklärte Altersmilde um: Selbst wo er nicht singt, bleibt er, als hätte es ihm angesichts der Wunder von Stoltzings Gesang und dessen Liebe zu Eva die Sprache verschlagen, stumm und das menschliche berührende Zentrum dieses musikalisch grandiosen Abends.