Mit Gesundbeten gegen das Problem

Thomas Meyer, Tages-Anzeiger (27.11.2003)

Die Meistersinger von Nürnberg, 25.11.2003, Zürich

Oper als Kammerspiel: Erstmals nach siebzehn Jahren werden Richard Wagners «Meistersinger von Nürnberg» in Zürich gespielt.

In seiner Hamburger Inszenierung des Werks wagte Peter Konwitschny vor einem Jahr den Bruch. Er liess im Schlussmonolog des Hans Sachs beim «Ehrt Eure deutschen Meister» abbrechen und inszenierte eine Diskussion, die das Stück in Frage stellte. Danach erst wurde es zu Ende gespielt. Konwitschny setzte am gleichen Punkt an wie Wagner. Der hatte ebenfalls den Jubel nach Stolzings Preislied abgebrochen und dort seine Botschaft von der deutschen Kunst platziert, bevor er zu einem zweiten und letzten Jubeln ansetzte. In Hamburg wurde für einmal sogar in die Musik eingegriffen - ein Sakrileg geradezu.

Das wirkt wie Gesundbeten

Wagners «Die Meistersinger von Nürnberg» bleiben ein hinterfragwürdiges Stück, auch wenn Konwitschnys Lösung nicht einfach wiederholbar ist. In Zürich freilich wird mit Programmheft und Opernhaus-Magazin von vornherein gegen die Problematik argumentiert: Die Schlussansprache von Sachs sei keineswegs nationalistisch gemeint, und in Beckmesser, dieser Karikatur des Wiener Musikkritikers Eduard Hanslick, habe Wagner keinen Juden gesehen, sondern den «Deutschen in seinem wahren Wesen». Das wirkt wie ein Gesundbeten, um einer in diesen Punkten garantiert unkritischen Inszenierung den Boden zu bereiten.

Wie singt doch Hans Sachs? Der Künstler stelle sich die Regeln selber und folge ihnen dann. Regisseur Nikolaus Lehnhoff jedenfalls übt sich geradezu in Abstinenz von jeder sowohl wagnerschen als auch antiwagnerschen Ideologie, er setzt auf die Story und die Konflikte zwischen den Personen um Liebe und Kunst, um bürgerliche Tradition und Innovation. Erzählt ist diese Oper ziemlich schlüssig, zuweilen fast als Kammerspiel. Die Personenführung überzeugt, weil sie die Sänger wenig zwängt. Bei heiklen Massenszenen lenkt die Regie mehr oder weniger geschickt, aber immerhin auf fantasievolle Weise ab: Geprügelt wird in Zeitlupe und in einem weichzeichnenden Dämmerlicht. Der Aufmarsch der Zünfte ist ein buntes, karnevaleskes Treiben, und überhaupt macht Lehnhoff aus der Prachtfeierlichkeit des Schlusses eher ein volkstümliches Allmendfest. Heterogen dazu die Mittel: die Kostüme von Moidele Bickel und Amélie Haas sowie das Bühnenbild von Roland Aeschlimann. Naturalistisch die Kirche des 1. Akts, atmosphärisch die Johannisnacht, symbolträchtig Bücherberg und Bienenwabenmuster der Tapete im Studierzimmer des Hans Sachs. Das schafft Assoziationsräume, die nicht einengen, die eine Spur Alltäglichkeit zulassen.

Die Menschen werden mit ihren Stärken und Schwächen gezeigt. Man schaut Charakteren zu. Wenn der Junker Stolzing in der Kirche nach Eva sucht, gleicht er einer Katze, die in alle Höhlen guckt. Neugierig besteigt er ebenso die Kanzel wie später den Merkerstuhl. Da ist einer sich und seiner Weltanschauung sicher. Peter Seiffert kann in dieser Rolle auftrumpfen, und er tut es stimmlich überzeugend, aber er lässt auch jene Portion trotziger Ablehnung spüren, die den Meistersingern zunächst so missfällt. Die Eva von Petra-Maria Schnitzer (deutlich, aber zuweilen etwas scharf in den Höhen) schwankt in ihren Gefühlen für Sachs; der Veit Pogner von Matti Salminen ist ein liebevoller, aber etwas unbeweglicher Vater. Und Sachsens so lebensfroher Lehrbub David, der Jungfer Lene (Brigitte Pinter) liebt, neigt je nachdem zu Servilität oder zu einer besserwisserischen Arroganz. Christoph Strehls Darstellung ist vokal und szenisch ein Höhepunkt dieser Inszenierung.

Den Gegensatz zu diesen Figuren bildet eben Hans Sachs: ein sehr ruhiger, weiser Mann, der auch Züge der Ermattung, ja der Depression mit sich trägt, der überzeugen, nicht überreden will und der so keine wuchtige Ausstrahlung anstrebt. Mit Ernsthaftigkeit gibt José van Dam diesen alternden Mann, der auf unscheinbare Weise geradezu alles um sich drehen lässt: Er ist kein Blender - was auch seinen Schlussmonolog wohltuend prägt. Vermissen wir da doch etwas? Es ist halt die Konsequenz aus dieser Inszenierung, die nicht auf Charisma, sondern auf menschliche Regung angelegt ist. Das ist «konventionell», aber nicht auf plakative Weise. Zu viele Fragen sind gestellt, zu viele Gefühle sind angesprochen, als dass der Jubel zum Schluss ganz frei davon wäre. Der Zweifel ist implantiert.

Das stimmt auch für die Musik. Was die «Meistersinger»-Partitur so faszinierend macht, ist die Verbindung von Schwung und Nachdenklichkeit, die auch das Thema des Stücks ist: Auf der einen Ebene: Sollen wir die Tradition bewahren, sollen wir sie durchbrechen, und was verlieren wir dabei? Auf der anderen: Läuft uns die Zeit, das Leben davon? Diese Konflikte rücken hier wieder ins Zentrum. Damit ist auch Wagners Kompositionstechnik durchsetzt. Die Leitmotive sind mehr als gesetzte Chiffren, sie sind Erinnerungsmotive; die Montagetechnik ist nicht mechanisch, sie pulsiert. Franz Welser- Möst arbeitet diese Elemente mit dem Orchester der Oper deutlich heraus, er lässt Nebenstimmen und Details hören, die oft untergehen. Noch nicht immer gelingt es ihm dabei, den Schwung zu bewahren, aber die wichtigsten Eigenschaften werden schon in den ersten Sekunden des Vorspiels hörbar: zügige Tempi und ein warmer Klang.

Eigenständig in seinem Wahn

Und der Beckmesser? Dem Kritiker das letzte Wort. Dieser Beckmesser ist zumindest eigenständig in seinem Wahn, eine durchaus boshafte Figur, gross gewachsen und gut gekleidet, mit einer überheblichen Eleganz gar auftretend, ein Bürgerlicher aus den Reihen der «Meistersinger», der bis zuletzt an sich selber glaubt. Kein Knicker, selbst in der Niederlage nicht: Man wird auf ihn zurückkommen müssen. Michael Volle macht die Rolle zum Ereignis.

PS: Der Vorstellung dauerte bei der Premiere mitsamt Pausen sechs Stunden.