Gesellschaftskritik im klassischen Sinn?

Michael Eidenbenz, Tages-Anzeiger (15.07.2002)

Rigoletto, 12.07.2002, Zürich

Mit einem bejubelten «Rigoletto» hat das Zürcher Opernhaus dem Publikum noch einmal gegeben, was es liebt: Sängerprominenz, Italianità und üppige Bühnenbilder.

War das nun der Ausgleich, sozusagen die Rache für «Carmen»? Während Peter Mussbach bei der ersten Festspiel-Premiere vor drei Wochen noch minuziös sämtliche Klischees umschifft hatte, durften diese nun in Gilbert Deflos Inszenierung im Übermass zurückprasseln, verschwenderisch wie der Regen aus Styroporkügelchen, der im dritten Akt ein bedrohliches Unwetter über Mantua darstellen sollte.
Nun sind Klischees der Kunstform Oper seit je eingeboren und können, clever eingesetzt, sehr wohl Sinn haben. Und tatsächlich spielt diese Inszenierung in ihren Ansätzen einen Moment lang mit ihnen: Die Renaissance-Party am Hof von Mantua ist demonstrative Show. Figuren des 19. Jahrhunderts haben sich zu ihrem Amüsement verkleidet, die läppischen Tänzchen des Balletts und die grotesken Hofkurtisanen sind ironische Accessoires einer vergnügungssüchtigen Gesellschaft - jener im Publikum, die für eine letzte Galavorstellung der Saison Ticketpreise von bis zu 380 Franken zu zahlen bereit war, wohl gar nicht so unähnlich.

Soll man da die Interpretation noch weiter forcieren? Resultiert da womöglich Gesellschaftskritik im klassischen Sinn? Ist Rigolettos Schicksal, den der Fluch einer in seinem Geschäftsleben als Hofharr verübten Tat unerbittlich im privaten Leben ereilt, womöglich eine Warnung an die Bilanzen fälschenden Geschäftshelden unserer Tage? Ach nein, wir wollen nicht übertreiben, Gilbert Deflo tut es schliesslich auch nicht. In der Folge geht dann nämlich alles seinen erwartbaren Opemgang. Man tritt auf stellt sich in die Bühnenmitte, singt mit Bravour, lässt die Handlung jederzeit zum Ernten von Publikumsovationen unterterbrechen, und so etwas wie, Beklemmung, Gefühlsturbulenzen oder gar Erkenntnis will sich nicht mehr wirklich einstellen, es bleibt beim erwartbaren Genuss von Sängerprominenz, einem pittoresken Geschichtchen und wohliger Italianità.

Kein Nachdenken nötig

Allerdings: Auf einer anderen Ebene können Klischees auch ganz ohne Ironie willkommen sein. - Zum Beispiel ist es längst ein Gemeinplatz, dass Nello Santi ein begnadeter Verdi-Dirigent ist. Doch zu beobachten, wie sehr seine Ausstrahlung, seine ruhige Gestik, seine Augen und seine körperliche Präsenz überhaupt einen ganzen Abend musikalisch in jeder Sekunde steuern, bleibt ein immer gern wiederholter Genuss. Bei Santi konzentrieren sich die emotionalen Energien dieses Abends, er steht für nichts weniger als für unanfechtbare Souveränität und für ein Musizieren, das mit seinem Sinn für Timing und Stil allfällige Einwände augenblicklich hinfällig macht. Da ist kein Nachdenken, Reflexion mehr nötig: So und nicht anders muss dieser Verdi klingen

Auch Leo Nucci weiss, wie Rigoletto zu singen ist, und dass er hier eine Paraderolle gefunden hat, ist, nach seinen über 400 Auftritten und 30 Jahren Rollenerfahrung, ebenfalls keine neue Erkenntnis. Proben hat er also kaum mehr nötig, seine Mimik, die bisweilen an alte Stummfilmzeiten erinnert, sitzt seit je und unveränderbar und liess sich auf Deflos grosszügige Personenführung gewiss leichter applizieren als auf die Vorstellungen eines ursprünglich als Regisseur vorgesehenen Werner Düggelin. An Nuccis Präsenz als buckliger Hofnarr hängt denn auch alles, was an atmosphärischer Verdichtung bisweilen doch aufkommt, in seinen besten Momenten streift seine Darbietung tatsächlich echte Tragik und Verzweiflung, während die Regie im Übrigen von Leitung und Personenführung weitgehend absieht.

Gesungen aber wird wieder einmal fabelhaft. Isabel Rey als Tochter Gilda liefert eine hinreissend ausgefeilte Arie «Caro nome ». Und wenn im düsteren Schlussakt doch noch Rührung aufkommt, so ist das ihrem zarten «Lassù nel ciel» zu verdanken (vorausgesetzt, man schliesst die Augen und muss den unsäglichen Jutesack nicht mitansehen, in dem die versehentlich Ermordete gemäss Regieanweisung über die Bühne geschleift worden ist). Facetten einer von Sehnsüchten zerrissenen Existenz werden von ihr freilich kaum verlangt. Auch von Piotr Beczala nicht, doch verkörpert der sonnige Sänger seine Rolle als Tenor und als verführeri-scher Duca derart freudestrahlend, dass sich davon einiges aufs Publikum überträgt: Ihm zuzuhören, ist schlicht ein Vergnügen! Melinda Parsons überzeugt als auf alt geschminkte Gouvernante Giovanna, Carmen Oprisanu als Lockvogel Maddalena, Pavel Daniluk als Monterone und László Polgár, der auch als Auftragskiller Sparafucile ganz Gentleman bleibt, verströmt einmal mehr schönste samtene Bassfülle.

Geschmähte, geliebte Kischees

Das fleissigste Opernhaus der Welt hat seinem Ruf nochmals Ehre gemacht, hat selbst das Saisonende noch mit einer Premiere gekrönt und seine Werkstätten noch einmal schuften lassen. Kulissen für einen herzoglichen Festsaal, für ein geblümt tapeziertes Zimmer bei Rigolettos zu Hause, für eine Terrasse, auf der Gilda ihren Starauftritt hat, und für eine industriell anmutende Szenerie am Ufer des Mincio hat William Orlandi als Ausstatter in Auftrag gegeben. Und neben den Solisten wollten auch der Statistenverein, das Ballett und der berückend nuanciert singende Chor eingekleidet sein. Für eine kurze Sommerpause kann das Material nun eingelagert werden, dann wird der Betrieb wieder aufgenommen - mit all seinen geschmähten, geliebten Klischees.