Der Edle aus dem wilden Osten

Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (24.06.2003)

Die Entführung aus dem Serail, 22.06.2003, Zürich

Zürcher Festspiele
Mozarts «Entführung aus dem Serail» im Opernhaus

Etwas karg, dieser Serail; einige kalkweisse Wände müssen genügen - Selim, der hier herrschende Bassa, hat ja, wie er am Ende erklären wird, alles verloren. Aber was es braucht für das Singspiel von Wolfgang Amadeus Mozart, das ist vorhanden - von der einsamen Palme, die das Geschehen lokalisiert und die, hat sie ihren Dienst getan, in den Bühnenhimmel entschwebt, bis hin zu den unzähligen Türen. Verfremdet, aufgebrochen wird hier nichts. Da schweben keine knallroten Sofas durch die Luft wie neulich in München; da wird auch nicht die geheimnisvolle Betriebsamkeit des Basars nachgezeichnet wie eben erst in Baden-Baden. Hier, im Opernhaus Zürich, wird «Die Entführung aus dem Serail» sozusagen eins zu eins nachgestellt. Wenn der Fürstensohn Belmonte auf der Suche nach seiner Braut Konstanze seine Auftrittsarie singt, stellt er sich einfach vor die Palme, womit es dann sein Bewenden hat. Später kommt Osmin dazu, der Aufpasser, der so gerne auf die Pauke haut; auch er hat seine Auftrittsarie, auch er stellt sich vor die Palme - der symmetrischen Ordnung halber. Damit geschieht nichts Falsches, auch nichts, worüber man sich aufregen könnte; es geschieht einfach gar nichts. Das freilich war dem Zürcher Premierenpublikum nun auch wieder nicht recht; es bedachte den Regisseur am Ende mit einem eindeutigen Buhkonzert. Jonathan Miller reagierte darauf mit einer ebenso eindeutigen Geste, die erkennen liess, dass er der Ablehnung nicht ganz souverän begegnete.

Nun ja, vielleicht muss man diese Inszenierung doch ein wenig in Schutz nehmen. Gewiss wirkt sie über weite Strecken zufällig, nicht sonderlich ausgearbeitet, ein wenig müde auch. Und ohne Zweifel geht manches daneben. Die Soldateska am Hof des Bassa Selim könnte direkt einem Asterix-Heft entsprungen sein - was als Pointe einigermassen danebengeht. Und wenn, während Pedrillo mit seinem pianissimo gesungenen und pizzicato begleiteten Ständchen die beiden Frauen zur Flucht ruft, der ungeduldige Belmonte eine allerdings bemerkenswerte Reihe von Liegestützen hinlegt, so führt das zu Gelächter und Beifall wie gleichzeitig zur Zerstörung der Musik - ein begleitender Produktionsdramaturg hätte das merken können. Auf der anderen Seite wird das schwierige (und schwierig zu inszenierende) Stück in einer feinsinnigen Weise ernst genommen. «Die Entführung aus dem Serail» handelt ja auch vom Zusammenprall der Kulturen, wie ihn das 18. Jahrhundert erlebt hat. Wobei es weniger um den Gegensatz zwischen Orient und Okzident als um das Bild geht, das man sich im Okzident vom Orient gemacht hat. Nicht weil er so einfältig ist, hat Osmin von der Ausstatterin Isabella Bywater einen so unsäglichen Faltenjupe verpasst bekommen, sondern weil er bei den fremden Gästen im Serail als so einfältig gilt. Seine Zuspitzung erfährt dieser Ansatz in der Figur des Bassa Selim, eines aufgeklärten Autokraten. Klaus Maria Brandauer spielt diese Partie nicht, er zelebriert sie - ja er führt sie spazieren. Mit hoch artifiziellem, sehr eigenwilligem Tonfall, virtuos in der Diktion und mit einigen Erweiterungen gegenüber dem originalen Libretto gibt er zu erkennen, dass Bassa Selim keinen Moment lang an die Anwendung von Gewalt denkt - weil er nicht nur kein Barbar ist, sondern auch die Konstanze ernstlich liebt.

In seiner Weise freilich - und welche Art Liebe die bessere sei, die von Selim oder die von Belmonte, das stellt für Konstanze eine schwierige Frage dar. Gut und Böse sind eben nicht so einfach, nicht so klar verteilt in Mozarts «Entführung», Malin Hartelius zeigt das sehr schön. Die «Martern-Arie» in der Mitte des zweiten Akts geht sie ganz fein und zart an, fern jeder heroischen Aufwallung; und wenn sie bei gewissen Spitzentönen die Lautstärke plötzlich zurücknimmt, so ist das nicht nur eine technische Meisterleistung, sondern unterstreicht auch das mädchenhaft Unsichere an der Figur der Konstanze. Ihr Bräutigam macht es ihr ja auch nicht leicht; Belmonte ist ein ziemlich larmoyanter Kerl - in der Darstellung von Piotr Beczala, dessen Stimme in dieser Partie gar nicht gut sitzt, kommt es zu wohl unfreiwilliger Deutlichkeit. Seltsam forciert das Dienerpaar mit Bogusaw Bidziski (Pedrillo), der bei seiner schmetternden Arie «Frisch zum Kampfe» übers Ziel hinausschiesst, und mit Patricia Petitbon, die mit feuerrotem Haarschopf und agiler Stimme eine ausgesprochen quirlige Blonde gibt. Voluminös der Bass von Alfred Muff (Osmin), der herrlich in die Tiefe geht, aber auch die erforderliche Beweglichkeit an den Tag legt. Dass es gerade in den leichtfüssigen, spritzigen Momenten an der Premiere freilich immer wieder zu Koordinationsproblemen zwischen Bühne und Graben gekommen ist, geht wohl weniger auf Grundsätzliches als auf die Umstände zurück. Vier Tage vor der Premiere wurde bekannt, dass Franz Welser-Möst aus gesundheitlichen Gründen von seiner Aufgabe zurücktreten musste. An seiner Stelle leitet der junge deutsche Dirigent Christoph König diese Festspielproduktion - und er tut es in Ehren, wenn er auch nicht vergessen machen kann, dass diese neue Zürcher «Entführung» im Wesentlichen eine Baustelle geblieben ist.