Sechs Personen suchen einen Regisseur

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (24.06.2003)

Die Entführung aus dem Serail, 22.06.2003, Zürich

Bei der Premiere von Mozarts «Entführung aus dem Serail» wollte keine rechte Festspielstimmung aufkommen. Dafür sorgte der Regisseur - nicht nur mit einer flauen Inszenierung.

Das Bühnenbild ist wirklich schön. Weiss-hellblaue Wände lassen sich zum weiten Saal oder zur Aussenmauer verschieben, etwas Stuck über den schweren Türen deutet den Bezug zum 18. Jahrhundert an, sonst bleibt alles offen. Vieles liesse sich in diesem Raum von Ausstatterin Isabella Bywater vorstellen, eine orientalische Abendunterhaltung nach dem Geschmack von Mozarts Zeitgenossen etwa oder eine kühle, scharfe Analyse dieser Geschichte um Liebe, Verzicht und Vergebung. Stattdessen gibt es ein Drama frei nach Pirandello: Sechs Personen suchen einen Regisseur.

Er gebe den Sängerinnen und Sängern viel Freiraum, hatte Jonathan Miller, der nach der Zürcher «Zauberflöte» nun auch diese «Entführung aus dem Serail» inszeniert, im Vorfeld verlauten lassen. Man könnte auch sagen: Er lässt sie einfach stehen, allein in diesem grossen, leeren Raum, allein mit ihren darstellerisch heiklen Rollen und den unterschiedlichen schauspielerischen Talenten.

Der Star des Abends, Klaus Maria Brandauer, meistert die Situation berufshalber am leichtesten. Er spielt Brandauer, der den Bassa Selim spielt - mit einer gewissen Distanz zur Figur und dennoch mit mehr Lebendigkeit als der Rest der Crew. Da tritt kein abgeklärter Herrscher auf, sondern einer, der in der Einsamkeit seines Palastes ein bisschen eigen geworden ist, der die Konstanze wie ein dummes Schulmädchen behandelt und mit immer leicht fragender Stimme vor sich hinredet. «Krk» macht er, wenn er seinen Gefangenen den Strick androht. Ohne Pathos, als einer, dem die Macht eigentlich verleidet ist.

Belmonte macht Liegestütze

An Bühnenpräsenz hat ihm einzig Patricia Petibon, die als Blonde ihren Einstand am Zürcher Opernhaus mit grandios zappeliger Görenhaftigkeit gibt, etwas entgegenzusetzen. Die ernsten Rollen dagegen tun sich schwer. Malin Hartelius als Konstanze erstarrt in ihrem Leid, Piotr Beczala als Belmonte steht und singt und greift sich ans Herz. Nur als es die Flucht aus dem Palast vorzubereiten gilt, macht er Liegestütze. Da erstaunt es nicht, dass Konstanze eigentlich gern dem Begehren des Bassa nachgeben würde und nur aus Pflichtgefühl diesem Belmonte mit seinem aufgebrezelten rosa-goldenen Kostüm treu bleibt. Aber dieser Regieeinfall - der übrigens keineswegs neu ist - hat hier keinerlei Konsequenzen und bleibt damit bedeutungslos.

Wo nichts so richtig zusammenpasst, hätte die Musik für eine Linie zu sorgen, und es ist wirklich Pech, dass Franz Welser-Möst grippehalber zumindest für die Juni-Vorstellungen ausfällt. An seiner Stelle dirigiert der junge Christoph König, einst Assistent von Welser-Möst, nun Erster Kapellmeister an der Oper Bonn. Er hat die «Entführung» in Zürich zwar bereits in der früheren Ponnelle-Inszenierung geleitet, aber für eine frisch einstudierte Sicht auf die Partitur war die Zeit ganz einfach zu kurz. Mehr als einmal konnten sich Sänger und Orchester erst nach ein paar Takten auf ein Tempo einigen, manche Übergänge gerieten verwaschen und instrumentale Dialoge verwackelt. Das dürfte sich in den weiteren Aufführungen verbessern, und dann könnten sich auch die Qualitäten des Orchesters der Oper noch stärker entfalten: Die klangschönen Bläser, das draufgängerische Schlagwerk, überhaupt die lichte Farbigkeit der Musik, die hier in einzelnen Arien durchschimmerte.

Das Gör und die Leidende

Auf gewohnt hohem Niveau blieben damit bei dieser Festspielpremiere einzig die sängerischen Leistungen. Von Patricia Petibon etwa: Sie singt die Blonde, wie sie sie spielt, frech und schrill und görenhaft, wobei die leicht eingestreuten Verzierungen und der immer wieder auch volle, runde Sopran die Vielseitigkeit ihres Talents verraten. Während sie jede Laune nach aussen trägt, richtet Malin Hartelius’ Konstanze ihren Schmerz ganz nach innen; bis an die Grenze des Verstummens geht sie in der «Traurigkeit», ohne dass ihre helle, bewegliche Stimme etwas von ihrer Leuchtkraft einbüssen würde. Das berührt, mehr als die heftigeren Töne in der «Martern»-Arie: Laut werden ist nicht in der Art dieser Konstanze.

Das gilt auch für Boguslaw Bidzinski, seit kurzem Mitglied im Zürcher Ensemble, der seinen ersten grossen Auftritt auf dieser Bühne hat. Er gibt den Pedrillo mit leicht schüchternem Schalk und diskretem, ungekünsteltem Tenor; seine Stimme überzeugt vor allem in ruhigen Passagen, forcierte Einsätze erträgt sie dagegen nicht. Kräftiger, belcantistischer und mit klassischen tenoralen Schluchzern gestaltet Piotr Beczala die Partie des Belmonte, der einem allerdings trotz des amourösen Impetus in den Arien nicht wirklich nahe kommt.

Und Osmin? Alfred Muff, als Aufseher des Bassa bereits vielfach bewährt, darf diesmal schauspielerisch weder poltern noch karikieren. Aber seine vokalen Ausfälligkeiten und der bösartige Charme seines Liedes zu Beginn verfehlen ihre Wirkung keineswegs; und dass eine deutsche Muttersprache für die Sprechpartien zwischen den Arien ein enormer Vorteil ist, belegt sein Auftritt ebenfalls.

Das Unpassendste zum Schluss

Stimmlich füllen jedenfalls alle Protagonisten den Raum, der schauspielerisch so ernüchternd leer bleibt. So galt der Applaus am Ende, wenn des Bassas Grossmut gerühmt wird, sozusagen einer schönen konzertanten Leistung: Die beiden Paare sangen ihren Dank, Selim sass in der Mitte und wischte die Huldbezeugungen weg wie lästige Fliegen, und was vorher auseinander gedriftet war, fügte sich zum kompakten, versöhnlichen Finale. Wenn nicht danach noch das Unpassendste gekommen wäre: Regisseur Jonathan Miller, kürzlich in den Adelsstand erhoben, erwiderte die Buhs des Publikums mit einer Geste, die sich nur unwesentlich vom Stinkefinger des Schiedsrichters beim Fussball-Länderspiel Schweiz-Russland unterschied. Man sollte ihm glatt die rote Karte zeigen.