Der Wagemut bleibt vor der Tür

Torbjörn Bergflödt, Der Landbote (24.06.2003)

Die Entführung aus dem Serail, 22.06.2003, Zürich

Viele musikalische Meriten, eine reichlich konventionelle Inszenierung bei gleichwohl erfüllten Spielmomenten: Im Rahmen der Festspiele war in Zürich Premiere einer neuen Mozart'schen «Entführung».

Heute, an seinem, des Bassas, Geburtstag sei Konstanze entführt worden. Meint Osmin zu Selim. Will hier heissen: sagt Alfred Muff zu Klaus Maria Brandauer im vierten Auftritt des dritten Akts. Das Premierenpublikum versteht den Texteinschub ins Opernlibretto prompt und gratuliert dem österreichischen Theater-, Kinofilm- und TV-Schauspieler sowie Bühnenregisseur Brandauer, der am 22. Juni 59 Jahre alt wird, mit einem Sonderapplaus.

Brandauer gab die Sprechrolle des Selim im Opernhaus Zürich mit einer starken Präsenz des Rätselhaften, eines Sowohl-als-auch von Liebendem und Zwingendem. Dass die Regie den Text dahingehend anspitzte, dass Selim Osmins Strangulierdrohung in der Geschwindarie zuvor ausdrücklich aufgreift, wirkte dann allerdings doch etwas befremdlich. Was überdies mit sich brachte, dass der librettogemässe Umschlag zum Herrscher, der seine Gefangenen allesamt freilässt, zu stark überraschen musste.

Schnabelschuhe, Turbane

Wagemut freilich war nicht das Hauptkennzeichen dieser Inszenierung. Der englische Regisseur Jonathan Miller und seine Ausstatterin Isabella Bywater haben, unterm Deckmantel einer Mozart-Gemässheit, gar viele Tribute an die Konvention gemacht. Schnabelschuhe, Krummsäbel und Turbane bei den Türken, Kleidung samt Perücken wie aus Mozarts Wien für die Menschen aus dem Okzident – solches Eins-zu-eins ist nicht gerade ingeniös zu nennen. Die bequem verschiebbaren Wände, Türen und Fenster erstarren regelmässig in einer nur minim aufgebrochenen Achsialsymmetrie und wirken wuchtig.

Ein bisschen mögen die Rechtecke und Kreise und weiteren Formgebilde, die aus dem etwas rätselhaften herrschaftlichen Haus ablesbar werden, sich zur sinnfälligen Folie fügen für ein Spiel, das auch beziehungsgeometrische Züge aufweist.

Eine lange Zeit offene Tür im zweiten Akt stellt einen raffiniert wechselnden Querbezug her zu den Empfindungen Konstanzes – darunter zur unzerstörbaren inneren Freiheit, zur Bereitschaft dieser Frau, lieber selbst den Martertod in der Fremde zu sterben als dem Geliebten untreu zu werden.
Die Inszenierung enthält allerdings manchen erfüllten Spielmoment. Was sich aus einer Personenführung ergeben haben mag, die Miller, dem Bulletin des Opernhauses zufolge, offenbar gerne freiheitlich handhabt, dem eigengestalterischen Naturell der Darsteller gemäss. Ein doch eher platter Joke: die Kniebeugen und Liegestütze des Belmonte unmittelbar vor der Entführung.

Der als Dirigent der Produktion noch in ebendiesem Magazin und auch in einem Biografienbeiheft angekündigte «Principal Conductor» des Hauses, Franz Welser-Möst, erschien nicht am Pult an der Premiere. Es war vielmehr Christoph König, der, ab welcher Probenwoche auch immer er den Stab übernommen haben mag, sich für die Belange von Mozarts wunderbarer Partitur mit gewinnreichem Elan einsetzte. Das Orchester liess neckische Rhythmusakzentuierungen hören und sangliche Linien, entband kleine Gefühlsstürme und in der Schlussnummer einen federnd rasanten Geschwindwirbel.

Eigene Farbe

Malin Hartelius legte in die Rolle der Konstanze jenen Tiefgang, mit dem Mozart, neben köstlichem Humor, dieses Singspiel geadelt hat. Eine zart nuancierende, feinsinnige Deutung bei, wo geboten, sehr «beweglicher Gurgel». Und auch – was sonst nicht immer zu beobachten ist an dieser Sängerin – eine intensive schauspielerische Vergegenwärtigung. Piotr Beczala als Belmonte sang mit kraftvoll strömender Tenorstimme bei fast zu hell-offener Vokalität und mit bisweilen zu viel Druck. Eine eigene, frische Farbe in den Abend brachte die Sopranistin Patricia Petitbon, in deren Künstlervita Namen wie Christie, Gardiner und Harnoncourt eine Rolle gespielt haben und die auch ein Diplom als Musikwissenschafterin in der Tasche führt. Zur Würze in Timbre und Führung der Stimme gesellte sich ein quirliges Spieltalent, wobei die Interpretation der Rolle der Blonde auch abgeschmecktwar mit einer Prise Sex-Appeal.

Cholerischer Aufpasser

Das «niedere» der beiden Paare vervollständigte der Zürichs Internationalem Opernstudio entwachsene Boguslaw Bidzinski als Pedrillo – sängerisch nicht rundum glückhaft operierend, schauspielerisch sehr gewandt. Durchaus pointensicher und mit resonanzreichem Bass agierte Alfred Muff, der die Figur des cholerischen Aufpassers Osmin verkörperte. Seine hier knapp bemessenen Einsätze besorgte überzeugend der von Ernst Raffelsberger einstudierte Chor.