Ein kraftvolles Memento mori

Herbert Büttiker, Der Landbote (27.01.2003)

Il Trionfo del Tempo e del Disinganno, 25.01.2003, Zürich

An so viel brausende Zustimmung im Opernhaus Zürich vermögen wir uns nicht zu erinnern: Das erste Oratorium Georg Friedrich Händels begeisterte das Publikum an der Premiere vom Samstag.

Der Komponist sitzt von Anfang an im Orchester. Und dessen schöne Allongeperücke kann niemand mehr übersehen, wenn der Organist Jory Vinikour als Händel-Double für ein Miniatur-Concerto am Portativ auf die Bühne gefahren wird, begleitet von der gleichfalls im Barockkostüm steckenden Konzertmeisterin Ada Pesch. Auch der 22-jährige wirkliche Händel hat seinerzeit im ersten Teil von «Il trionfo del tempo e del disinganno» an der Uraufführung 1707 in Rom die Orgel traktiert.
Der Komponist und Tastenvirtuose war damals freilich nach Italien gereist, um sich als Schöpfer von Opern zu profilieren. In der Ewigen Stadt, wo per päpstliches Dekret die Gattung als solche verboten war, fand er Ersatzbetätigung auf dem Felde des Oratoriums. Händels erster Gattungsbeitrag ist eine allegorische «Moralität» zum Thema der Vergänglichkeit. Schönheit, Vergnügen, Enttäuschung und Zeit treten hier an und tragen Argumente und Gegenargumente für die Vorzüge ihrer jeweiligen Begriffswelten vor. Wobei «Piacere» auf der einen und «Disinganno» sowie «Tempo» auf der anderen Seite versuchen, sich der «Bellezza» zu versichern beziehungsweise sie zu bekehren. Am Ende steht die totale Absage der bussfertigen Schönheit ans Vergnügen.

Flimm beweist glückliche Hand

Jürgen Flimm, der im Zürcher Opernhaus nicht immer eine ganz glückliche Regiehand bewies, hat diesmal eine hervorragende, ja bewegende Inszenierung zu Stande gebracht. Unter Mitarbeit von Gudrun Hartmann, Erich Wonder (Bühnenbild) und Florence von Gerkan (Kostüme), ist da, in Wechselwirkung mit der Musik, ein kraftvolles Memento mori erwachsen, das über jede geschmäcklerische oder platt tautologische Visualisierung der im Werk bildsatt vorgetragenen Gedanken und Affekte einen haushohen Sieg davonträgt.

Der Raum von Wonder zieht uns hinein in ein glamourös aussehendes riesiges Restaurant mit ausladender Bar. Es ist der 1927 eröffneten Brasserie «La Coupole» im Pariser Montparnasse-Viertel nachempfunden. Ein Tempel eines einsam-geselligen weltlichen Treibens, in den aber immer wieder unmissverständlich die Zeichen der Hinfälligkeit alles Menschlichen, der Bresthaftigkeit und des Todes hereingrüssen. Gruppen trinkender und feiernder Leute, ein in dialektische Dauerbetrachtung mit einer Kindpuppe versunkener Alter, eine Modeschau junger Frauen auf dem Tresen, Beschwipste, ein Mann mit kolossalen Engelsflügeln und, und, und: Statisterie, Schauspieler und Tänzer bestreiten hier einen Part, der über die Funktion einer rein atmosphärischen Sättigungsbeilage weit hinausreicht.

Ohne Verquältheiten

Eindrücklich ist auch der neben «Bellezza» einsam übrigbleibende Gast, als Sensenmann kenntlich gemacht – bei dem allerdings stört, dass er noch für einen oberflächlich anmutenden pyrotechnischen Einfall herhalten muss. Erfrischend ist, dass die Szenerie für Metaphysisches und Groteskes auch durchlässig gemacht wird. Und der in Händels Partitur nicht vorhandene Chor erscheint, gewandelt, gewissermassen durch die Hintertür wieder hereingebracht. Die in dezent charakterisierende (und wechselnde) Kostüme gesteckten vier eigentlichen «Figuren» des Oratoriums handeln ihren Disput ab – vor und in diesem Treiben, prosten sich zu, riskieren fallweise einen Flirt, werden für Momente zu sängerischen Grosstaten vorne an die Rampe gestellt. Das geschieht alles ohne Verquältheiten und ohne Drücker.

Prachtvolle Gesangskunst

Isabel Rey als «Bellezza» sang an der Premiere mit gut fokussiertem und dabei beweglich gehaltenem Sopran und viel Espressivo. Cecilia Bartoli als «Piacere» spreizte die barocke Affektrhetorik ganz weit auf: Das reichte von der Höchstgeschwindigkeits-Koloraturenkette bis zum gerade noch hingehauchten Hyper-Piano in der Schlusspartie der Arie
«Lascia la spina» (der Erstgeburt des «Lascia ch'io pianga», bekannt aus dem «Rinaldo»). Marijana Mijanovic gab mit dem «Disinganno» ein fulminantes Hausdebüt: Mit gleichsam instrumentalem Gestus führte sie ihren Alt, der erstaunlich tief hinunterreichen kann und dessen Timbre eine wunderbare Schärfedosis beigemischt ist. Auch Tenor Christoph Strehl, der den Part des «Tempo» versah, wirkte mit biegsam-agiler, textausdeuterisch wacher Gesangskunst.

Wie gerade eben bei Mozarts «Idomeneo», spielen die Orchestermusiker nicht als Grabenarbeiter, sondern in erhöhter Position. Die Unterschiede sind allerdings erheblich. Denn wo bei Dohnányi unter nicht-«authentischen» Prämissen musiziert wurde, wirkt jetzt mit dem Franzosen Mark Minkowksi einer der profiliertesten jüngeren Vertreter der historischen Aufführungspraxis. Überhaupt agiert nicht dasselbe Orchester der Oper Zürich, sondern vielmehr das ausgekoppelte Spezialensemble «La Scintilla». Mit historischen Instrumenten, in tieferer Stimmung, bei kontrastdramaturgischen Dynamikschärfungen, einem auch bis zu «sturmmusikalischer» Erregung anziehenden Tempi und mit sparsamen Streichervibrati. Zwar scheint, als hätten die Instrumentalisten an der Premiere eine Weile gebraucht, um sich freizuspielen. Aber dann begann es zu leben und zu pulsieren.