Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (27.01.2003)
Georg Friedrich Händels Oratorium "Il trionfo del tempo e del disinganno" auf die Bühne gebracht.
Vom Oratorium zur Oper, vom Betsaal auf die Bühne: Der gewagte Sprung, er ist geglückt, und wie! Am Schluss der Vorstellung eine Viertelstunde lang exaltierte Ovationen: für die Sänger und Musiker, für die szenische Visualisierung - und für Händel.
Es ist sein letztes Oratorium und gleichzeitig sein erstes überhaupt. «Il trionfo del tempo e del disinganno» schrieb Händel während seines Italienaufenthalts in Rom im Mai 1707. Und zwar im Auftrag und auf einen Text des Kardinals Benedetto Pamphilj, bei dem Händel bei freier Kost (und mit eigener Kutsche und allen übrigen Bequemlichkeiten) logieren durfte. Kein Zweifel, Pamphilj war vom jungen Händel angetan, hofierte und charmierte ihm derart aufdringlich (das soll vorkommen), dass ihn Händel später, in London, als «old fool» bezeichnete. Dennoch, in London nahm Händel seinen Oratorien-Erstling dreissig Jahre später wieder hervor und bearbeitete ihn, nun unter dernTitel «Il trionfo del tempo e della verità», für eine Aufführung im Covent Garden Theatre. Nochmals zwanzig Jahre später ging Händel abermals über die Bücher, richtete ein englisches Textbuch ein und brachte das Werk, sein letztes überhaupt, nun unter dem Titel «The Thriumph of Time and Truth» 1757 und 1758 zur Aufführung.
Sacrum und Profanum
Eigentlich ist es eine Allegorie, wie sie das Barockzeitalter liebte. In einer schier endlosen Aneinanderreihung von 24 Arien, dazu Duette, Quartette und ein kleines Orgelkonzert, machen sich allegorische Figuren - Schönheit, Vergnügen, Zeit und Wahrheit - einander den Rang streitig: Was ist ausschlaggebend im Leben? Der Vergnügungssüchtigen wird das «Memento mori» entgegengehalten, und der Schönheit, die ihr Leben ihm Schein verbringt, das «vitam impendere vero» Juvenals. Natürlich geht es um Moral respektive um eine Gott gefällige Lebensweise, um die Suche nach der Wahrheit im Leben (statt des schönen Scheins), um die Erkenntnis, dass der Gerechte leiden wird, dass es aber die Tränen dieser Gerechten sind, die im Himmel als Perlen aufbewahrt werden.
Wie gesagt: ein Disput in Arien; Handlung entwickelt sich daraus keine. Wie kann man das dennoch abendfüllend spannend, auf die Bühne bringen? Nun, Oratorium und Bühne, Kirche und Theater, Sacrum und Profanum schliessen sich nicht gegenseitig aus; im Gegenteil, die Struktur ihrer Wirkung und ihres Selbstverständnisses ist in nuce dieselbe. Das zeigt auch die historische Entwicklung: Seit dem 18. Jahrhundert wurde das (geistliche) Oratorium dort, wo (weltliche) Oper verboten war, gerne als brauchbarer Ersatz beigezogen, in fürstlichen Palästen und privaten Theatern.
Barbetrieb
Und der Disput als solcher, das Argumentieren in der Frage, wie wichtig Schönheit und die Lust am Vergnügen in unserem Leben sind, wie wichtig es andererseits wäre, sich die irdische Vergänglichkeit, den eigenen körperlichen Zerfall vor Augen zu halten - diese Fragen sind heute, in der Spassgesellschaft der ewig Jungen, so aktuell wie je. Genau hier setzt die Zürcher Inszenierung an. Erich Wonder hat auf der Bühne eine immense Bar aufgebaut, die an die Brasserie «La Coupole» in Paris erinnert. Der linken Wand entlang sechs weiss gedeckte Tische fürs elegante Souper, für den gepflegten Wein; rechts ein langer Tresen, der sich in adretter Schlaufe im Bühnenhintergrund verliert.
Barbetrieb einen ganzen Opernabend lang. Denn die vier allegorischen Figuren sind Gäste wie die vielen andern, die hier sitzen und sich gestylt herumlümmeln. Regisseur Jürgen Flimm hat ein wunderbar sensibles Gespür für diese sich mondän aufspielende Bar-Atmosphäre. Man verkauft hier die «NZZ», Opernbesucher kommen nach der Vorstellung zum Late Night Drink (gespielt wurde offensichtlich Händels «II trionfo del tempo e del disinganno», man siehts dem Programmheft an, das sie studieren und das man gleichzeitig selber in Händen hält). Sie quatschen und parlieren (lautlos), versuchen immer wieder, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, etwa jene Dame, die in rückenfreiem Dekolletee in Richtung Toilette geht, und das in jenem «wissenden» Gang, der Männerblicke magnetisch fixieren soll.
Apokalyptische Koloraturen
Dass diese Selbstinszenierung eine aufwändige ist, wird uns schlagartig bei jenem Herrn bewusst, der von einer Herzattacke ereilt wird und tragisch zu Boden geht. Überhaupt, was wäre diese Scheinwelt des Vergnügens ohne ihr moralisches Komplementär: Es treten Heilsarmisten auf und singen, man spürt es, mit dem lieben Gott auf der Zunge. Dazu, die Welt ist so kontrastreich, eine Modeschau auf dem Bartresen: Girls führen schwarze Designerklamotten vor, was an die klerikale Modeschau in Fellinis «Roma» erinnert.
Immer wieder wird distinguiert serviert, getrunken, gegessen; unaufdringlich, wie es die gehobene Ambiance verlangt. So- genüsslich (und formvollendet) allerdings wie Cecilia Bartoli (in der Rolle des Piacere) isst niemand, und sie schläft nach soviel leiblichem Genuss folgerichtig am Tisch ein. Übrigens trägt sie mal einen Hosenanzug, dann wieder eine raumgreifende Robe: Ist dasVergnügen, il piacere, männlich oder weiblich? Beides wohl, jedenfalls bringt Cecilia Bartoli sehr männliche Verführungskünste ins Spiel, etwa wenn sie sich mit impulsiver Entschlossenheit in apokalyptische Koloraturen stürzt, zum schmunzelnden Vergnügen des Publikums. Umgekehrt aber zeigt sie auch, dass man von Frau zu Frau eben anders - besser - reden kann.
Über die Gender-Grenzen hinweg
Isabel Rey (in der Rolle der Bellezza) ist eine Wasserstoffblondine scheinbar ohne Verfallsdatum und hat doch die Halbwertszeit überschritten insofern, als Reflexion übers eigene Leben bekanntlich erst in dessen zweiter Hälfte beginnt. Sie hat letztlich ein Einsehen, dass sie auf dem falschen Weg ist, schminkt sich ab (wie Mary alias Georg Preusse jeweils am Schluss seiner Travestie-Show), entledigt sich der Perücke, lässt sich als Nonne einkleiden (ob das wirklich die Lebenslösung ist?) und singt zum Schluss mit einem wahrhaft anrührenden Silberglocken-Ton in der Stimme eine Arie (mit begleitender Solovioline), die uns derart ergreift, dass wir diese Lösung unwillentlich akzeptieren. Bravo, Händel!
Marijana Mijanovic verkörpert die Enttäuschung (Disinganno): Mann und Frau in einem, Engel und Macho über die Gender-Grenzen hinweg - auch stimmlich, wo ein exquisit frauliches Alt-Timbre immer wieder mit Facetten eines männlichen Falsettisten zu spielen scheint. Und vor allem ist Disinganno ein Melancholiker, vielleicht sogar - schwarz schattende Augenringe könnten darauf hinweisen - mit Drogenerfahrung. Dagegen wirkt Christoph Strehl (als Tempo) wie ein Managertyp, der weiss, dass Zeit Geld ist und genau so singt und agiert: Alles ist richtig, alles sitzt, alles ist evident. Keine Selbstzweifel.
Evidenz auch im Orchester La Scintilla der Oper Zürich, obwohl (noch) nicht alles (ganz) sitzt. Marc Minkowski heizt seinen Musikern tüchtig ein, denn das Orchester hat wesentlichen Anteil am Geschehen. Oboen und Blockflöten, Solovioline, Theorbe und zum Teil dreigeteilte Geigen verschmelzen immer wieder zu neuen Klängen, konzertierten im Corelli-Stil mit den Singstimmen. Sogar der Continuo-Orgel ist ein eigenes kleines Konzert zugedacht, das Händel übrigens auf der Bühne gleich selber spielt: eine historische Frühform späterer kommerzieller Hammond-Orgel-Hintergrundklänge in Bars und Bistros.