Trauer muss Bellezza tragen

Christian Berzins, Aargauer Zeitung (27.01.2003)

Il Trionfo del Tempo e del Disinganno, 25.01.2003, Zürich

Opernhaus: Marc Minkowski dirigiert G. F. Händels «Il trionfo del tempo e del disinganno» in Zürich.

Einen solchen Opernabend hat Zürich länger nicht erlebt. Kein Wunder, mag ein Spötter sagen, wurde doch auch keine Oper, sondern ein Oratorium gespielt. Doch Regisseur Jürgen Flimm und Bühnenbildner Erich Wonder zaubern in dieses geistliche Spiel eine Handlung und Bilder, dass es spannender wird als so manche Oper. Ein Triumph für Intendant Pereira, hat er doch aus einer schier ausweglosen Situation ein Maximum herausgeholt. Im Herbst erst hatte bekanntlich Nikolaus Harnoncourt die vorgesehene «Armida»-Produktion für diesen Februar abgesagt. Innert kürzester Frist wurde umdisponiert und Georg Friedrich Händels Oratorium «Il trionfo del tempo e del disinganno» angesetzt. Wer sich diese Produktion anschaut, wird eine traumschöne und zugleich wilde Zeitreise erleben. Sie beginnt 1707.

Die Schönheit geht ins Kloster

Der 22-jährige Händel kommt nach Italien, wo die Kirche verboten hat, Opern aufzuführen. Der musikliebende Kardinal Benedetto Pamphilj bestellt bei ihm ein Oratorium, für das er das Libretto schreibt. «Der Triumph der Zeit und der Enttäuschung» ist eine geistliche Parabel, gewiss, aber eine voller dramatischer Zuspitzungen: La Bellezza (die Schönheit) geht mit Il Piacere (dem Vergnügen) einen Pakt ein. Solange sie zu ihm hält, werde sie ewig schön sein. Il Tempo (die Zeit) und Il Disinganno (die Enttäuschung) zeigen ihr aber auf, dass die Schönheit vergänglich ist. Bellezza wendet sich vom Vergnügen ab und geht ins Kloster.
Erich Wonder baute Regisseur Flimm für die Umsetzung dieses Spiels ein hinreissendes, hochästhetisches Bühnenbild: Dieser atmosphärische Raum aus den 20ern des letzten Jahrhunderts, ein Restaurant mit langer Bar, ist voller Leben. Seine zeitlose Vielschichtigkeit verblüfft: Die Bar kann zum Laufsteg werden; es gibt eine Türe, die Schneegestöber, somit die Aussenwelt, in den Raum lässt; da gibt es Lichtspiele im Hintergrund, und da ist auch eine grosse Leere: Platz für die zahlreichen Statisten und Handlungen.

Hier geschieht nichts, was nicht in jeder Bar nachts passiert. Doch gerade diese Normalität ist es, die das erhabene Spiel so menschlich werden lässt: Da kommt ein rührendes Blumenmädchen daher; es werden bald frisch gedruckte Zeitungen verkauft, an den Tischen wird gestritten wie geliebt, zu viel gegessen wie übermässig getrunken - unsere vier Protagonisten fallen weder auf noch ab. Hier kommen Bellezza und Il Piacere ganz natürlich mit den zwei Gestalten des Nebentisches ins Gespräch. Es ist spät, die Hemmschwelle tief, die Emotionen gehen hoch - auch in musikalischer Hinsicht.

Marc Minkowski leitet das Orchester «La Scintilla», jenes Opernhaus-Ensemble, das sich auf historischen Instrumenten auskennt. Minkowski entlockt ihm eine ungeheuerliche Sprache: sinnlich und gleichzeitig beredt; nicht perfekt, aber von einer Farbigkeit, oft auch Feinheit und Emotionalität, die ihresgleichen sucht. Die Sänger vertreten unterschiedliche Ansätze. Niemand spricht die Rezitative besser als Cecilia Bartoli (Piacere), doch wird bei ihr eben auch der Gesang zur Sprache - ob als Kunst oder als Hilfsmittel, lassen wir dahingestellt. Bartolis Gesang will den höchsten Ausdruck, derweil Isabel Rey (Bellezza) «nur» der Schönheit verpflichtet ist. Marijana Mijanovic steht in der Mitte: Ihre Altstimme klingt wie eine Orgel und zeugt von grösstem Ausdruck, ungemeiner Vielfältigkeit in der Tongebung und von grandiosem technischem Raffinement. Christoph Strehl (Tempo) zeigt einmal mehr die Qualitäten seines lyrischen, aber bereits recht kräftigen Tenors.

Trauer steht für erhabenes Vergnügen

In einer barocken Melancholie, die im Opernhaus-Magazin fälschlicherweise mit der «modernen Depression» gleichgesetzt wird, endet das Spiel. Ist in alten Melancholie-Darstellungen nicht immer zu sehen, dass die erlebte Trauer auch ein erhabenes, da reflektiertes Vergnügen war? So scheint es denn auch leicht verfehlt, dass bei Flimm der Schluss der Oper erdenschwer traurig wird.

Bellezza hat dann die edlen Kleider, die Perücke und den Schmuck abgeworfen. Sie erinnert an Caravaggios «Maddalena», an jenes Bild, das in der Galleria Doria Pamphilj hängt. Es hing wohl auch schon dort, als Georg Friedrich Händels Oratorium in Rom, im Palazzo Pamphilj (!), uraufgeführt wurde. Und nun würde die Zeitreise enden, wenn jetzt nicht erst begonnen werden könnte, darüber nachzudenken, was denn diese Schönheit ist. Ist Bellezza in ihrer Schlichtheit nicht viel «schöner» und anmutiger als vorher? Sind nicht auch die in Öl verewigten biblischem Maddalenen, die dem Vergnügen abgeschworen haben und sich dem Glauben zuwenden, oft viel «schöner» als die neckisch badenden Susannen oder die lockenden Venus-Figuren? Il Piacere findet naturgemäss an Letzteren mehr Gefallen und braust mit Theaterfeuer von dannen. Bei Bellezza wird niemand bleiben, denn Flimm (miss)deutet ihren Gesinnungswandel mit dem Tod.