Fressen, saufen, untergehen

Maria Künzli, Berner Zeitung (02.10.2006)

Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, 30.09.2006, Bern

Am Samstag feierte «Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny», die Oper des Duos Kurt Weill und Bertolt Brecht, Premiere im Stadttheater Bern. Die gelungene Inszenierung eines Nie-dergangs hadert nur mit einem - der Schönheit.

Sie bauen eine Stadt, wo keine Stadt hingehört. Und halten später allen sinnigen und unsinnigen Regeln dieser Welt eine einzige entgegen: «Du darfst!» Weitab von Zivilisation und Gesellschaft schaffen sich die drei gesuchten Gauner Leokadja Begbick (Karan Armstrong), Fatty der Prokurist (Andries Cloete) und Dreieinigkeitsmoses (Richard Ackermann) eine Oase - zum Saufen, Fressen, Huren. Alles ist im Überfluss vorhanden. Doch schon bald wird das Kartenhaus der Dekadenz in sich zusammenfallen.

Eine Oase

Am Samstag hatte die Oper des Duos Kurt Weill und Bertolt Brecht umjubelte Berner Premiere im Stadttheater. Der deutsche Regisseur Harry Kupfer inszenierte das Stück bereits 2005 in der Semperoper Dresden und bringt es nun in einer überarbeiteten Fassung in die Schweiz. Neu gibt es Dirndl tragende Dirnen zu sehen, eine Gletscheridylle statt Wüstenromantik, und ein kleines Bundeshaus strahlt im Bühnenhintergrund. Mittelpunkt der Drehbühne (Bühnenbild: Hans Schavernoch) ist jedoch auch in Bern ein imposanter sowjetischer Militärhelikopter. Mit ihm landen die drei Gauner in der Wüste, um ihn herum bildet sich Mahagonny, das bald zur Oase für Menschen wird, die genug vom Alltag und Überlebenskampf in der Zivilisation haben. Zu ihnen gehören auch Jenny Hill (Noemi Nadelmann) und der Holzfäller Jim Mahoney (Hendrik Vonk).

Die Sopranistin Noemi Nadelmann ist eine beeindruckende Jenny: stark ihre naiv-verführerische Mimik, wenn sie sich von Mahoney angeln lässt, schwungvoll-ohrwurmverdächtig ihre strahlend-helle Interpretation von «Wie man sich bettet, so liegt man». Auch der niederländische Tenor Hendrik Vonk überzeugt trotz Kehlkopfentzündung in seiner Rolle des revolutionierenden Holzfällers, der am Ende daran scheitert, dass er drei Whiskeyflaschen nicht bezahlen kann - und keiner ihm helfen will.

Ein Songspiel

«Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny» ist alles andere als eine klassische Oper. Ursprünglich wurde sie 1927 von Kurt Weill als Songspiel nach Gedichten von Bertolt Brecht konzipiert, als eine Abfolge von musikalischen Nummern ohne inneren Zusammenhang. Erst später bauten Weill und Brecht die Songs zu einer Oper aus. Zu einer Oper nach Brecht-Philosophie: Ziel ist ein Lernprozess des Publikums durch Nicht-Identifikation, Mittel ist die Verfremdung. Die Musik ist eine Mischung aus Schlager, Jazz und klassischer Musik, zum Teil rhythmisch verfremdet. Eingängige Refrains wechseln sich mit rauen Tönen ab. Mit Tönen, die nicht dazu gemacht sind, «schön» zu klingen.

Und das ist ein Defizit der sonst sehr gelungenen und mutigen Berner Aufführung: Die Sänger - eine Ausnahme ist Karan Armstrong - halten sich zu sehr an das kunstvoll Opernhafte, sie singen zu klassisch. Der lupenreine, wunderschön helle Sopran von Nadelmann etwa passt nicht zu der kaltblütigen, narzisstischen Vorstadtschlampe Jenny Hill. Sie wird einem zu sympathisch. Ein weiteres Defizit ist die Verständlichkeit: Beim Chor und auch hin und wieder bei den Solisten wären Untertitel hilfreich - auch wenn die Oper deutsch gesungen ist. Das Berner Symphonie-Orchester zeigt sich hierbei unter der Leitung von Daniel Inbal - es ist sein Debüt in Bern - als sensibel agierenden Partner.

Doch einer übertönt sie alle: Uwe Schönbeck führt als Sprecher mit Humor und Ironie durch das Stück, beobachtet mit einem zwinkernden Auge das Geschehen, mit dem andern die Wirklichkeit. Und zeigt, dass beide Welten gar nicht so weit voneinander entfernt sind.

Und was bleibt am Ende von Mahagonny? Eine revoltierende Menschenmasse. Ohne Regeln und ohne Träume. Jetzt gibt es keine Stadt mehr, wo keine Stadt hingehört.