Sündenpfuhl im Alpenland

Christoph Ballmer, Neue Zürcher Zeitung (02.10.2006)

Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, 30.09.2006, Bern

«Mahagonny» von Brecht und Weill am Stadttheater Bern

Die Opern von Kurt Weill haben in diesem Brecht-Jahr Konjunktur. Auch auf helvetischen Bühnen. Vor rund drei Wochen erst war Premiere für die «Dreigroschenoper» in Luzern. Nun also «Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny», das grosse Lehrstück um Verführung, Sittenzerfall und die zerstörerische Allmacht des Geldes, am Stadttheater Bern. Nicht in irgendeiner Lesart freilich, sondern in jener von Harry Kupfer, dem grossen deutschen Regietheater-Veteranen, der für sich in Anspruch nehmen darf, den alten Brecht noch persönlich gekannt zu haben. Ob er ihn darum gleich auf die Bühne zerren und als strippenziehenden Conférencier auftreten lassen musste? Sei es, wie es sei: Der Schauspieler Uwe Schönbeck hat die ihm zugewiesene Aufgabe mit zynischem Schalk gelöst. Und er hat ein Spektakel für Auge und Ohr entrollt, dessen Suggestivkraft man sich schwerlich entziehen kann.

Bruchlandung mit Helikopter

Allein das Bühnenbild von Hans Schavernoch ist nicht zu übersehen: ein originaler russischer Armeehelikopter, mit dem die Witwe Begbick samt ihren beiden halbstarken Komparsen zu Beginn der Oper Bruchlandung erleidet. Nicht in einem x-beliebigen Stück öder Wüste freilich, sondern inmitten unserer heilen Alpenwelt, mit herrlicher Panoramasicht auf den Aletschgletscher. Mahagonny, der verderbte Sündenpfuhl, ist überall. Auch in Heidiland. Ein gar überdeutlicher Fingerzeig. Ziemlich redundant deshalb die diversen schnuckeligen Modellbauten, welche das grosse Alpenbild abwechslungsweise flankieren: die putzigen Riegelhäuschen, die Walliser Speicher, das Bundeshaus. Die Bilderflut ist gewaltig, die Botschaft längst verstanden. Nicht erst am Ende, wenn die Mickey Mouse auf die Bühne lugt, wenn tumbe Konsumenten mit genagelten Brettern vor dem Kopf fremdgesteuert ihre Einkäufe tätigen, wenn Demonstranten für und gegen alles und jedes («Frauen in den Bundesrat») durch die Strassen ziehen und Flugzeuge in die Twin-Towers rasen.

Gnadenlose Konsequenz

Allem szenischen Aktivismus zum Trotz: Das Drama entwickelt sich mit gnadenloser Konsequenz. Und das hat sehr viel mit der Schärfe der Personenzeichnung, vor allem aber mit der Qualität im Musikalischen zu tun. Exemplarisch dafür die Figur der Jenny Hill, die in Noëmi Nadelmann eine darstellerisch wie sängerisch überragende Interpretin findet, grossartig changierend zwischen Heiliger und Hure, zwischen Diva und verruchter Chansonnière - eine Idealbesetzung. Ebenso Karan Armstrong, die Grande Dame des modernen Musiktheaters, die der Witwe Begbick in nuttigem Outfit und menschenverachtender Härte ein starkes Profil gibt. Und mit Hendrik Vonk als Jim Mahoney und Richard Ackermann als Dreieinigkeitsmoses sind die weiteren Hauptrollen gleichfalls gut besetzt.

Die eigentliche Überraschung jedoch kommt aus dem Orchestergraben, wo der junge Daniel Inbal das Berner Symphonie-Orchester zu einer beeindruckenden Leistung führt. Die grosse Operngeste, die Klänge von Music Hall und Swing in natürlichem Nebeneinander: Das bekommt man in solcher Bruchlosigkeit leider nicht oft zu hören.