Sehr pittoreske Opernleidenschaften

Thomas Meyer, Tages-Anzeiger (24.03.2003)

La Gioconda, 22.03.2003, Zürich

Ein Melodram mit Schauer und Tanz: Amilcare Ponchiellis Oper «La Gioconda» ist ein kulinarisches Mehrgangmenü. Am Samstag hatte sie in Zürich Premiere.

Federleicht ist der «Tanz der Stunden», der berühmteste, neujahrskonzertkompatible Abschnitt der Oper. In luftig-anmutigen Bewegungen erzählen zehn junge Tänzerinnen von der Ballettschule für das Opernhaus (Choreografie: Berta Vallribera Mir) von Idylle und Glück. Und das, obwohl sie diesen Tanz vor einem Machtmenschen, dem skrupellosen Staatsinquisitor Alvise, vorführen. Die hellen Glöckchen des Balletts werden bald von Totenglocken abgelöst werden. Dann nimmt das düstere Drama seinen Lauf.

Der «Tanz der Stunden» wäre so ein Moment des Innehaltens, der zeitlosen Utopie, des schönen Scheins von Kunst auch in einer grausamen Welt. Wenn diese Inszenierung zumindest eine Ahnung davon vermitteln würde! Die Tänzerinnen jedoch, das ist symptomatisch, werden sich am Schluss ihrer Darbietung zum Publikum hin präsentieren und nicht zum Inquisitor hin, in dessen Haus sie auftreten. Und so wird der Tanz vollends eine Einlage zur Unterhaltung des Publikums, einst bestimmt für die ballettrattenliebenden älteren Herren im Parkett. Das Stück kippt so hübsch aus dem Drama.

Das kleine Beispiel macht deutlich, in welche Richtung die Neuinszenierung von «La Gioconda» angelegt ist: als pittoreske Choreografie aufs Publikum zu, nicht in das wie auch immer geartete Drama hinein. Dieses Drama freilich ist ohnehin nicht so stark wie beim grossen Zeitgenossen Verdi oder bei Ponchiellis Schüler Puccini. Es ist ein typisch verwickeltes, psychologisch kaum mehr plausibles Liebes- und Intrigen-Drama, mit einem Bösewicht (Barnaba) als Katalysator, einem hehren Liebespaar (Laura und Enzo), das sich schliesslich sogar findet, und einer unglücklich Liebenden, die sich aber aufopfert, der Gioconda des Titels eben, wobei man zumindest an diesem Abend nie erfährt, warum die Figur diesen Übernamen (die Heitere) trägt.

Das liesse sich zumindest in einen Strudel von Leidenschaft hineintreiben, der Librettist Arrigo Boito, der später erfolgreich für Verdi arbeitete, hatte es darauf angelegt. Aber manches, was in der Handlung angelegt ist, machte der Komponist Amilcare Ponchielli (1834-1886) nur auf einer oberen Ebene wahr, in die Tiefe vermochte er nicht vorzudringen. Er verfügte jenseits der gewiss souverän gehandhabten Konventionen jener Zeit nicht über die Mittel der Charakterisierung und Zuspitzung. So muss sein bekanntestes Werk wohl zweitrangig bleiben, aber es bietet doch allerhand, was eine Aufführung rechtfertigen mag.

Allerhand Touristisches aus Venedig

Das Werk - Melodram und Prunkstück in einem - nutzt die Theatermittel geschickt und ausgiebig, und der Zürcher Regisseur Gilbert Deflo und sein Team rücken diesen Aspekt in den Vordergrund: Grand Opéra à l’italienne. Hier wurden Elemente des venezianischen Karnevals und auch sonst allerhand Touristisches wie Markusplatz, Gondeln und Schiffe von Boito zielsicher eingebaut. William Orlandi bringt die entsprechende Ausstattung mit pittoresken Bildern: Arkaden wie auf einem Bild von Giorgio de Chirico neben einem weitaus weniger stilisierten Himmel, ein prächtiger Goldvorhang im Ballsaal, eine fotorealistisch vernebelte Vedute der Stadt, Empire-Kostüme, Trauergondeln, alles bunt gemixt, ohne Konzept auf Bildwirkung angelegt, mal schaurig, mal frisch und gelegentlich unfreiwillig komisch. Hinzu kommen grosse Chorpartien, besagtes Ballett, erregt leidenschaftliche Ensembleszenen, ergreifend zerrissene Monologe, die sich statisch und klischeehaft an der Rampe vorne austragen lassen. Das funktioniert durchaus.

So ergeben sich oft weite Räume, die zwar choreografisch, aber kaum darstellerisch genutzt werden. Okay, wenn dabei genügend Platz bleibt fürs Singen, denn offensichtlich will Deflo vor allem eine Plattform für die Stimmen schaffen. Dirigent Nello Santi bereitet dem mit dem Opernorchester einen farbigen, sicheren Boden. Das klingt zumindest stets lebendig und durchpulst und in keinem Moment so bemüht, wie es auf der jüngsten Aufnahme mit Marcello Viotti stellenweise wirkt. Nun ja, an der Präzision, vor allem mit dem von Jürg Hämmerli einstudierten Opernchor, wäre in Zürich noch zu arbeiten, aber das Ganze trägt auf natürliche Weise - mit einer Natürlichkeit, die Deflos Personenführung im Szenischen nie erreicht. Und es ist melodramatisch effektvoll, auch wenn es psychologisch einiges schuldig bleibt. Wie viele Gefühle durchlebt nicht allein die Gioconda in ihrem letzten grossen Monolog? Sylvie Valayre interpretiert diese Figur facettenreich und engagiert. Sie überzeugt mit schönen Tiefen und einer selbstverständlichen Phrasierung. Einzig bei den hohen Ausbrüchen wirkt ihre Stimme etwas angestrengt und im Ensemble zu dominant.

Die beiden anderen Frauenrollen können sich etwas weniger profilieren, vielleicht weil die vorgesehenen Sängerinnen kurzfristig ausfielen. Die gefühlvoll interpretierende Mariana Pentcheva sprang deshalb als Laura ein, Francesca Franci sang die alte blinde Mutter der Gioconda. Darstellerisch ist das wohl noch steigerungsbedürftig, aber in dieser Hinsicht geben diese Rollen ohnehin weniger her als die männlichen Widerparte.

Joviale Diabolik

Roberto Scandiuzzi als grausamer Alvise (er singt die Partie auch unter Viotti) bot dabei die vokal und mimisch rundeste Darstellung. Walter Fraccaro als Enzo bestach vor allem durch seine intensive, ja feine Vortragsweise, gerade in der grossen Arie im 2. Akt. Der Bösewicht Barnaba schliesslich, der für Boito eine Vorahnung des Jago gewesen sein muss, wirkt bei Juan Pons von Stimme und Postur her imposant. Ganz glauben mag man ihm freilich seinen Diabolismus nicht: Er wirkt zuweilen eher jovial denn hintergründig. So sicher diese Leistungen sind, so fügt sich das Ensemble doch nicht ganz zusammen. Der Eindruck bleibt wie ja auch im Szenischen disparat, aber vielleicht ist diese Heterogenität ja ein Grundzug des Stücks.