Herbert Büttiker, Der Landbote (24.03.2003)
Schöne Musik, schöne Bilder, Nello Santi am Pult und nicht sehr herausragende Stimmen. Zu den bezwingendsten Abenden im Opernhaus Zürich gehörte die «Gioconda» an diesem Wochenende nicht.
«Cielo e mar», die Romanze des Tenors, «Suicidio», die Arie des Soprans, die «Danza delle Ore», das Glanzstück des Orchesters haben aus gutem Grund ihre Karriere auch im Konzert gemacht. Einprägsame Musik enthält Amilcare Ponchiellis einziges auf den Bühnen präsent gebliebenes Hauptwerk von 1876 zuhauf. Auch Bariton und Bass haben ihre glänzende solistische Plattform, packende Duette und ein breit angelegtes Concertato mit Chor und Solisten kommen hinzu, und auch für sich hat der Chor in Volksszenen wirkungsvolle musikalische Auftritte. Das alles ist freilich über einem Drama gebaut, das zwar von keinem Geringeren als Arrigo Boito stammt, aber dessen für Verdi geschriebene Shakespeare-Libretti bei weitem nicht erreicht. Victor Hugos stark bearbeitetes Stück ist nicht der grosse Stoff, und die Figuren scheinen sich weniger in ihrer Geschichte zu verwirklichen und darzustellen, als eine solche zu manipulieren, um ein vorgegebenes Figurenprofil zu demonstrieren. Auftritte und Abgänge gerade zur rechten Zeit, das richtige «Werkzeug» stets zur Hand – die Zufälle, die sich in grossen Stücken zur Notwendigkeit des Dramas fügen, weisen hier eher auf die schwache Glaubwürdigkeit der Figuren hin. Vielleicht auch deswegen – und nicht nur wegen der hochgeschraubten sängerischen Anforderungen – war «La Gioconda» immer ein Werk der grossen Stars und ihrer Magie, auch ein Stück der spektakulären Inszenierungskunst, und – wie sich jetzt in Zürich zeigt – kein Repertoirestück für solides Niveau und gutes Mittelmass.
Schleppend
Ein solches herrschte an dieser Premiere denn doch über weite Strecken und erklärte vielleicht auch das Phänomen, dass der Applaus zwar dezidiert anerkennend war, aber eben doch – nach einem lastenden, gut dreieinhalbstündigen Abend – schnell enden wollend. Gefeiert wurde vorab Nello Santi, der allerdings da und dort (die Holzbläser zwischen den beiden Strophen der Romanze) fast ein wenig buchstabieren liess und insgesamt schon zügiger vorangegangen ist als an diesem Abend, an dem er den gut disponierten grosse Apparat von Chor und Orchester manchmal schleppend, oft aber auch mit sensibler Klangfülle aufblühend agieren liess.
Forciertes Volumen herrschte hingegen öfters im solistischen Bereich. Roberto Scandiuzzis Alvise geriet darob vielleicht einförmiger, als diese eindimensional angelegte Bassfigur ohnehin ist, während der Bariton Juan Pons das finstere Auftrumpfen des Barnaba doch akzentreich differenzierte und auch mit der Lockerheit des dämonischen Scherzos den Zyniker potent und facettenreich gestaltete: insgesamt die souveränste Bühnenfigur dieses Abends. Walter Fraccaro konnte seinen schlanken Tenor am besten in den lyrischen Passagen entfalten, aber was er in «Cielo e mar» und im Duett mit Laura (Mariana Pentcheva mit üppigem Mezzosopran) an ausdrucksvollem Profil zeigte, relativierte sich schnell in deklamatorischen Passagen von wenig Substanz und steifem Agieren. Umgekehrt Sylvie Valayres Gioconda, stark und agil im Dramatischen, mit knappen Reserven allerdings in den expansivsten Momenten, vor allem aber unausgeglichen, mit manchmal fast brüchigem Timbre, im Mezzavoce-Bereich. Bei aller Intensität, die dabei immer im Spiel war: So ganz erwärmen konnte man sich auch für diese Figur nicht, deren heftige Zerrissenheit zwischen der Engelsfrömmigkeit (an der Seite der blinden Mutter, die von Francesca Franci mit ruhiger Präsenz eindrücklich gestaltet wurde) und der um ihre Liebe kämpfenden Löwin ihren eigentlichen Grund im Theatralisch-Spekulativen nie ganz verleugnen konnte.
Wenig inspiriert
Vielleicht hätte die Inszenierung einiges tun können, um dem entgegenzuwirken. William Orlandis Venedig-Bilder, die sich auf weniges (De-Chirico-Arkadezur Seite, schwarz glänzendes Wasser im Vorder- und Hintergrund) konzentrierten und für den zweiten Akt mit dem Deck des Schiffes, das am Ende in Flammen aufgeht, eine szenisch überzeugende Lösung fanden, boten dazu die Voraussetzung. Gleich die erste Szene, der Auftritt des Chores, der tanzenden Commedia-dell’Arte-Figuren und des in der Regatta ausgeschiedenen Zuane (Giuseppe Scorsin), geriet aber in einer Weise hölzern, die nichts Gutes erahnen liess. Wie der Regisseur Gilbert Deflo, der mit dem originellen Doppelabend mit «Thérèse» und «Cavalleria Rusticana», aber auch «Rigoletto» (auch der ein Stück nach Victor Hugo!) in Zürich schon eine glücklichere Hand gehabt hat, das Geschehen dann abwickelte, wirkte im besten Fall nach gekonnter Routine, aber kaum je inspiriert und vom Einfall gesegnet. Am stärksten vielleicht gerade in ihrer Schlichtheit überzeugte die grosse Szene des dritten Aktes mit dem unspektakulär, aber musikalisch duftig choreografierten «Tanz der Stunden» (Berta Vallribera Mir), während die Inszenierung im vierten Akt – auf geradezu entblösst wirkender Bühnenfläche an Stelle von Giocondas improvisiertem Zuhause – nicht einmal gegen unfreiwilliger Komik gefeit war.