Stefan Degen, Neue Luzerner Zeitung (25.03.2003)
Nello Santi dirigierte am Opernhaus Zürich Amilcare Ponchiellis Dramma lirico «La Gioconda». Der Abend lässt viele Fragen offen.
Leidenschaft, Liebe, Hass, Intrigen, Mord, Gift, Verrat - das sind die Affekte die «La Gioconda» (1876) prägen, eines der düstersten Werke der Opernliteratur. Dennoch hat der italienische Komponist Amilcare Ponchielli (1834-1886) eine über weite Strecken melodiöse Musiksprache dafür gefunden, die bereits auf den Verismo verweist. Mit dem Librettisten Arrigo Boito (der für Verdi die Textbücher zu «Otello» und «Falstaff» schrieb) hat Ponchielli um die Verse gerungen. Die vieraktige Grand-Opéra basiert auf Victor Hugos Drama «Angelo, Tyrann von Padua». Boito verlegte die Handlung ins Venedig des 17. Jahrhunderts. Da ist der Karneval nicht weit.
Verworrene Handlung
Regisseur Gilbert Deflo nimmt diesen Faden gerne auf. Die Massenszenen zeigt er als grosse, jedoch statische Tableaux. Sein Ausstatter William Orlandi schuf mit abstrahierender Bildsymbolik ein Venedig um 1800: den Markusplatz vor blauem Himmel, ein riesiges Schiff, einen Fest-saal und die öde Ge-gend am Kanal Orfano. Zusammen mit der raffinierten Lichtregie (Hans-Kunz) ergibt dies immer wieder eine stimmungsvol-le Atmosphäre - überzeugend vor allem in den intimen Szenen.
Die Handlung der Oper ist verworren und für das heutige Publikum kaum nachvollziehbar - eine Schauergeschichte mit mehrfach tödlichem Ausgang. Der Regisseur unternimmt gar nicht erst den Versuch, die Figuren glaubhaft auszuleuchten. Es scheint, als setzte Deflo auf die individuellen schauspielerischen Fähigkeiten seiner Protagonisten. Für unfreiwillige Lacher sorgt er im Schlussakt, als zwei Gondolieri die scheintote Laura wie einen Sack Kartoffeln über die Bühne schleppen.
So sind denn die Sängerinnen und Sänger auf sich allein gestellt. In Maestro Nello Santi haben sie einen Dirigenten, der sie auf Händen trägt. Santi - wie immer auswendig dirigierend - musiziert mit dem Orchester der Oper Zürich wunderbar differenziert, vom filigranen Streicherklang bis zu mächtiger, dramati-scher Aufladung in den Massenszenen. Auch der verstärkte Chor trumpft gewal-tig auf. Originell chographiert wurde das berühmte Ballett «Tanz der Stunden» von Berta Vallribera Mir.
Aufstrebender Tenor
Offenbar kurzfristig kam es zu zwei wichtigen Umbesetzungen (Laura und La Cieca). Die Bulgarin Mariana Pent-cheva als Laura Adorno überzeugte mit sattem, rundem Mezzo, Francesca Franci als blinde Mutter nahm mit sonorer Altstimme für sich ein. Die grösste Überraschung des Abends bot der junge italienische Tenor Walter Fraccaro in seinem Rollendebüt als Enzo Grimaldo. Er sang mit warmem Timbre, Strahlkraft und Schmelz glei-chermassen verströmend. Ein Höhepunkt seine Arie «Cielo e mar». Der Spanier Juan Pons gab den Intriganten Barnaba wohltuend fern von jeder billigen Schmierigkeit mit vollklingendem Bariton. Überzeugend der Bassist Roberto Scandiuzzi als Alvise, der seine Gattin Laura zum Gifttod anstiftet.
Zwiespältige Gioconda
Bleibt die sich aufopfernde Strassensängerin Gioconda von Sylvie Valayre. Die Französin machte in Zürich als Abigaille Furore. Ihre Stimme klang am Premierenabend seltsam verschleiert und belegt. Die Spitzentöne kamen angestrengt, die Mittellage gab kaum Farben her, satt war nur die Tiefe. Darstellerisch wirkte ihre Gioconda allzu umtriebig. Erst im Schlussakt («Suicidio!») konnte die Valayre ihren dramatischen Sopran in ein besseres Licht stellen. Der Jubel für die Ausführenden nach dem fast vierstündigen Abend (mit einer 25-minütigen «Lichtpause»!) war gross, aber ungewöhnlich kurz. Am stärksten gefeiert wurde Maestro Santi.