Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (15.04.2003)
«Die tote Stadt» von Korngold im Opernhaus Zürich
Ein erstaunliches Stück - und das Erstaunlichste daran: Erich Wolfgang Korngold war, als er «Die tote Stadt» schrieb, dreiundzwanzig Jahre alt. Gewiss, er galt als das musikalische Wunderkind seiner Zeit; bereits als Zehnjähriger war er zu Alexander Zemlinsky in den privaten Kompositionsunterricht gegangen, mit neunzehn war er mit zwei Operneinaktern zu einem ebenso grandiosen wie bekämpften Erfolg gekommen, und einen Verleger hatte er auch schon: keinen Geringeren als Schott in Mainz nämlich. Aber selbst wenn man das alles in Rechnung stellt, kann man die Souveränität des Handwerks und die Individualität der Handschrift in der 1920 in Köln und Hamburg zugleich uraufgeführten und sofort breitflächig nachgespielten Oper nur bewundern.
Dass sich das so sagen lässt, gehört mit zu jenen Veränderungen, denen das Bild von der Musikgeschichte des frühen zwanzigsten Jahrhunderts in der jüngeren Vergangenheit unterworfen wurde. Nach und nach kamen in den letzten Jahrzehnten die unzähligen Komponisten, die sich ausserhalb der Zweiten Wiener Schule an der Entfaltung der musikalischen Moderne beteiligt hatten, ans Licht: Franz Schreker zum Beispiel, der Bedeutendste unter ihnen, oder eben Korngold. Und wie Schreker brachten auch Korngold die späten zwanziger Jahre ein Ende; die Zeit der üppigen Orchesterspiele war vorbei, in den Vordergrund gerieten die Tendenzen um die Neue Sachlichkeit. Korngold verlegte sich aufs Komponieren von Filmmusik, worin er eine eigene Virtuosität entwickelte - zumal in Hollywood, wohin er zusammen mit seiner Familie 1934 ausgewandert war. Indes, so gewiss ihm diese glückliche Wendung das Leben gerettet hat, so sehr erhielt sie ihm bis zu seinem Tod im Jahre 1957 und darüber hinaus das Odium des effektvoll Unterhaltenden und damit des Unseriösen.
Der Ruf ist falsch und ungerecht - das lässt sich jetzt im Opernhaus Zürich erfahren, wo «Die tote Stadt» konsequent als ein Stück der Moderne gezeigt wird. Der zarten Nostalgie in «Glück, das mir verblieb», der zentralen Arie des Stücks (und Renner eines jeden Wunschkonzerts), bleibt Franz Welser-Möst nichts schuldig; auch den zahlreichen Anklängen an Richard Strauss und Giacomo Puccini lässt er Gerechtigkeit widerfahren. Vor allem aber stellt er heraus, wie vielgestaltig und vielschichtig die Partitur Korngolds gehalten ist, wie extrem sie zwischen zuckersüss und kantig-scharf pendelt. Zumal im ersten Akt hält der Dirigent das riesig besetzte Orchester - das Opernhaus muss für diese Produktion zwei Sitzreihen im Parkett hergeben - mustergültig im Zaum. In dem aufgelichteten Klangbild wird hörbar, dass Korngolds Musik ihren rauschhaften Charakter nicht allein aus dem Spiel mit den Orchesterfarben gewinnt, sondern ebenso sehr aus dem überaus dichten Netz an Motiven, die wie bei Wagner semantisch determiniert sind. Da könnte man sich denn einlassen und zu begreifen versuchen - nur müsste man, wie stets im Opernhaus Zürich, das Libretto auswendig können, denn vom Text sind naturgemäss etwa zehn Prozent verständlich, und auf die andernorts längst üblichen Texteinblendungen wird einmal mehr verzichtet.
Den Blick auf das Moderne in Korngolds Oper lenkt auch die szenische Realisierung. Nichts in dieser neuerlichen Arbeit des Schauspielers Sven- Eric Bechtolf lässt erahnen, dass mit der toten Stadt das alte Brügge gemeint ist, dass das Stück im 19. Jahrhundert spielt und dass es eine ausführliche Verweisung auf «Robert le diable» von Giacomo Meyerbeer enthält. Das Geschehen um den unglücklichen Paul, der von der Trauer um seine verstorbene Frau Marie nicht loskommt, der in der lasziven Tänzerin Marietta der Verkörperung seiner unterdrückten Triebe begegnet und in einem schweren Traum eine eigentliche Katharsis durchlebt, die ihm das Vergessen und den Neubeginn ermöglicht - dies Geschehen ist in einer Sphäre von Psychoanalyse und Traumdeutung angesiedelt. Das eheliche Schlafzimmer, von Paul unter Plasticbahnen bewahrt, als sei Marie nur kurz weggegangen, wird von dem Bühnenbildner Rolf Glittenberg ins Design der emphatischen Moderne gekleidet. Und später, wenn uns Pauls Albtraum in ein geräumiges Badezimmer versetzt, wo sich Riese und Zwerg, bärtige Frau und Hermaphrodit tummeln, spielen die Kostüme von Marianne Glittenberg beziehungsreich mit der geschlechtlichen Ambivalenz. Sigmund Freud also und das Trauma des untergegangenen Kaiserreichs, aber auch das ewige Dilemma des Mannes zwischen der Frau als Mutter und jener als Hure.
So weit, so interessant - wenn dabei nicht immer wieder und so nachhaltig zum Holzhammer gegriffen würde. Und dies schon am Ende des ersten Aktes, wo Frank (Olaf Bär, ausdrucksstark agierend) nicht als der vom Text vorgesehene Freund, sondern als Arzt erscheint und dem sichtlich verwirrten Paul eine Spritze verpasst, die ihn ins Delirium versetzt. Wo der benebelte Patient dann erstmals seinen gestauten Trieben begegnet, was zu einer ziemlich expliziten, wenn auch nicht mehr sonderlich provozierenden Tanzeinlage führt. Und wo handgreiflich, aber in freier Auslegung des Textes behauptet wird, die Gattin sei von eigener Hand aus dem Leben geschieden. Klar tritt hier der Hang des Regisseurs zu teils gewiss anregender, teils aber auch ärgerlich willkürlicher Interpretation zutage, und am Ende bleibt das Gefühl, dass hier wieder einmal das schlagkräftige Bild die Auseinandersetzung mit Text und Musik entbehrlich erscheinen lassen soll.
Im zweiten Akt, einer Art Tableau im Geist der Grand Opéra, gerät dann auch dem Dirigenten das Heft aus der Hand. Da trumpft das Orchester in seinem erweiterten Graben derart auf, dass sich beim Zuhörer alsbald Ermattung einstellt und er sich fragt, ob das Stück für ein Haus wie jenes in Zürich überhaupt geeignet sei. Vor allem aber geht dieser Ansatz zulasten der beiden Protagonisten, die sich mit Kraftanstrengungen sondergleichen dem reissenden Strom des Instrumentalen entgegenzustellen haben. Emily Magee (Marietta/Marie) gelingt das eindrücklich, sie bleibt stimmlich grossartig bei Kräften und bewahrt sich ihre erotische Ausstrahlung bis ans gewaltsame Ende. Norbert Schmittberg dagegen geht unter - in Ehren, wie man deutlich sagen muss. Der deutsche Tenor verfügt über ein nicht unproblematisches, weil relativ scharfes Timbre, zugleich aber auch über eine ungewöhnliche darstellerische Präsenz; wie er die Unruhe und das Getriebensein der Hauptfigur verkörpert, wird man nicht so leicht vergessen. Aber wenn er am Ende noch einmal zu «Glück, das mir verblieb» ansetzt, ist er stimmlich nur mehr ein Schatten seiner selbst. Und dass dieses Ende im Zürcher Opernhaus dem Geist der Partitur vollkommen widerspricht, dass es nicht von der These des Stücks, sondern vom Zweifel des Regisseurs an ihr berichtet - dafür hat man dann allenfalls noch ein ermüdetes Lächeln übrig.