Fritz Schaub, Neue Luzerner Zeitung (15.04.2003)
Die Neuinszenierung von Korngolds selten gespielter Oper «Die tote Stadt» macht die morbide Geschichte auf psychologische Abgründe durchsichtig.
Es ist eine abstruse Geschichte, die da der junge Erich Wolfgang Korngold Anfang der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts nach einem Libretto von Paul Schott (Pseudonym für Julius Korngold, den Vater des Komponisten) vertont hat. Da lebt ein Witwer, Paul, behütet von einer Haushälterin, jahrelang in einer Wohnung voller Reliquien aller Art. Es sind Erinnerungen an Pauls verstorbene Gattin Marie, die er wie eine Heilige verehrt. Da begegnet er eines Tages einer Frau, die er als die verstorbene Gattin wiederzuerkennen glaubt. Doch es ist nicht Marie, sondern Marietta, eine flatterhafte vulgäre Tänzerin.
Ekstatische Liebesduette
Dass in dieser Geschichte sehr viel Zündstoff verborgen ist, erkannte schon Puccini, der den Stoff vertonen wollte, aber davon absah. So war es Korngold, der die heissblütigen Möglichkeiten der Dreieckskonstellation nutzte - im zweiten Akt zu einem ekstatischen Liebesduett, im dritten, immer sinfonisch breit untermauert, zu einer hochdramatischen Auseinandersetzung, an deren Ende Paul Marietta ermordet. Er stösst sie nämlich wieder zurück, nachdem er erkannt hat, dass er Marie untreu geworden ist, indem er Marietta sinnlich liebte. Diese aber lässt sich dies nicht gefallen, begreift, dass Paul nicht sie, sondern die tote Frau liebt, möchte ganz Maries Stelle einnehmen und von Paul ganz geliebt werden - ein unauflöslicher Knoten, der nur durch den tödlichen Ausgang seine Lösung findet. Aber Verführung und Mord finden nur im Traum statt: Dass im Traum verdrängte Triebe auftauchen, im Unterbewusstsein unbewältigte Vergangenheit sich regt, wusste man damals, als Sigmund Freuds «Traumdeutung» erschienen ist.
Zwischen Realität und Traum
Hier setzt der Regisseur Sven-Eric Bechtolf an. Er löste mit dem Bühnenbild von Rolf Glittenberg und den Kostümen von Marianne Glittenberg das Geschehen aus dem Umfeld der Entstehungszeit, dem Wiener Fin-de-siècle, rückte es in die Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts. Ein hermetisch abgeschlossener weisser Raum, in dem sich eine Art Zahnarztstuhl und eine mit einer Plastikhülle verdeckte Liegestatt nebst diversen Andenken an Marie wie das in einer Vitrine aufbewahrte blonde Haar befinden, beherrscht den ersten Akt. Im zweiten und dritten Akt nimmt er für die Traumsequenzen riesige Dimensionen an. Eine Grossleinwand vergegenwärtigt schon im ersten Akt die tote Marie. Sie liegt in einer Badewanne, und von ihrem Arm verläuft eine Blutspur über die Aussenwand der Wanne. Hat sie Selbstmord begangen beziehungsweise wurde sie in ihn getrieben? Von wem, etwa gar von ihrem Ehemann?
Das bleibt im Dunkeln, wie auch der Schluss offen bleibt: Paul wird von seinem Freund Frank aus der toten Stadt und von der toten Frau weggeführt - angeblich ins Leben. Aber im letzten Moment ergreift er ein Kleidungsstück der Toten. Rechts vorne stellt sich Brigitta (Cornelia Kallisch, trotz gemeldeter Bronchitis rollendeckend); die Haushälterin, in, wartender Haltung auf. Wird Paul doch wieder zurückkehren in die Totengruft?
Höllisch schwierige Rollen
Eindrücklich, wie präzis der Regisseur die Sänger führt. Norbert Schmittberg zeichnet das Bild eines zerrissenen Menschen mit Hang zu Aggressionen. So wie er gleich zu Beginn mit einem Messer hereinstürmt oder wenn er - immer in der realen Welt - Marietta Maries Schal um den Hals legt und für einen Moment den Eindruck erweckt, als wolle er sie erwürgen, traut man ihm alles zu. Stimmlich bringt Schmittberg als Einziger Erfahrungen mit der Rolle mit, deren exorbitante Schwierigkeiten er imponierend meistert. Dass er ganz am Ende seiner Parforceleistung noch den melodiösen «Hauptschlager» des Werks, «Glück, das mir verblieb» mit vollem Wohllaut zu intonieren vermag, ist schon beeindruckend. Aber auch Emily Magee, aufgemacht wie eine Hollywood-Diva, steht den Balanceakt zwischen dem «Lied der Marietta» und den fast pausenlos geforderten hochdramatischen Ausbrüchen fabelhaft durch. Olaf Bär singt sowohl Frank als auch Fritz alias Pierrot hochkultiviert und textverständlich. Und das Orchester verströmt unter der Leitung von Franz Welser-Möst einen Klangrausch, der die Emphase dieser Tonsprache voll zum Tragen bringt und doch immer bildhaft gegliedert und gefasst bleibt.