Happy End nur im Fiebertraum

Torbjörn Bergflödt, Aargauer Zeitung (21.10.2003)

Der Kreidekreis, 19.10.2003, Zürich

Wiederaneignung: Zemlinskys «Kreidekreis» melodramatisch in Zürich

Es könnte alles gut werden. Das wahre Liebespaar hätte sich gefunden. Die Gerechten wären belohnt, die Ungerechten bestraft. Doch es geht auch anders.

Ein Happy End. So steht es im Text der Oper «Der Kreidekreis», dem nur wenig veränderten gleichnamigen Schauspiel von Klabund. Und so spricht auch die Musik von Alexander Zemlinsky, die, sonst oft kammerspielhaft dimensioniert, sich im finalen Duett von Haitang und dem Kaiser wagnerianisch aussingt und apotheotisch aufgipfelt.

Der Regisseur David Pountney indes mag der Frau, die von der armen Mutter als Amüsiermädchen ans Teehaus verkauft worden war, und dem Mann, der der Vater ihres Kindes ist, das Glück nicht gönnen. Die im Stück intonierten politisch-gesellschaftskritischen Motive lässt Pountney in einen blutigen Schluss münden. Glück und Gerechtigkeit? Ein Fiebertraum von Sterbenden in eisiger Schneelandschaft. Bestenfalls eine Utopie. Haitang und ihr Bruder, unrechtmässig verurteilt, werden hinterhältig erschossen.

«Der Kreidekreis», Zemlinskys letzte vollendete Oper, hat vor fast genau 70 Jahren im Zürcher Stadttheater seine Uraufführung erlebt. Im Rahmen einer Serie, mit der sich das Opernhaus Zürich an Uraufführungen im eigenen Hause erinnert, ist jetzt mit Pountneys Neuinszenierung an den Dreiakter erinnert worden.

Pountney und sein Ausstatter Johan Engels, die schon Pfitzners «Rose vom Liebesgarten» einen anderen Schluss beschert haben, hätten dem Stück das gute Ende belassen dürfen. Ja, die vermeintliche Schärfung des lehrhaften Elements droht dieses «Morality Play», das Gerechtigkeit anmahnt, gar zum Melodramatischen hin zu entschärfen. Dabei haben die beiden just das Brechtsche sonst ganz meisterhaft her-ausgearbeitet. Für sprechende Doubles, die fallweise auch schauspielern, stehen vorne an der Rampe sechs Stühle. Solches Figuren-Splitting spendet passende Verfremdungseffekte, eine ebenso passende Reverenz ans Kabuki-Theater und lässt sich technisch deshalb gut machen, weil Zemlinsky den Figuren viele Sprechtexte zuordnet. Die ingeniös stilisierten Bühnenbilder und die Kostüme vermitteln keinen Chinoiserien-Kitsch, sondern atmen parabolische Kraft. «Atmosphäre» ist nicht tabu. Stummfilmartig werfen etwa die Opernsängerinnen und -sänger Schatten an die Wände.

Gesungen wird auf hohem Niveau, wobei an der Premiere besonders die deutsche Sopranistin Brigitte Hahn in der Hauptrolle der Haitang das ganze Ausdrucksregister von der Feinziselierung bis zum raumgreifend wogenden Klang bewundernswert durchmass. Unter dem Dirigenten Alan Gilbert kamen beim Orchester wirkungssicher die wechselnden Stile zum Tragen: freches Kurt-Weill-Idiom und spätromantische Süsse, an Mahlers «Lied von der Erde» gemahnende Lineaturverläufe und farbbetonte Klänge.