Martin Etter, Der Bund (21.10.2003)
Erfolg für Alexander Zemlinskys Klabund-Vertonung «Der Kreidekreis» im Opernhaus Zürich
Das zweieinhalbstündige, pausenlos durchgespielte Werk «Der Kreidekreis» strahlt durchgehend unwiderstehliche Atmosphäre aus und lässt das Publikum an der menschlich ergreifenden Handlung unmittelbar teilnehmen.
Nicht immer spricht die Nachwelt gültige Urteile: Im Fall der 1933 in Zürich uraufgeführten Zemlinsky-Oper «Der Kreidekreis» auf der Basis der Dramatisierung eines uralten chinesischen Märchenstoffs durch den Asienkenner Klabund darf man sogar davon ausgehen, dass hier ein Meisterwerk der Vergessenheit anheimgefallen ist.
Klabunds Dichtung kreist um das Teehausmädchen Tschang-Haitang, das vom armen Prinzen Pao geliebt und vom reichen Mandarin Ma gekauft wird und dann die Eifersucht der bisherigen Erstfrau Yü-pei herausfordert. Yü-pei vergiftet ihren Mann und versucht, das Kind Tschang-Haitangs als ihr eigenes (und damit als Erben des Ermordeten) auszugeben. Aber der zum Kaiser erwählte Pao greift zum Mittel des Gottesurteils: Das Kind wird in den Kreidekreis gelegt. Die Frau, die das Kind aus dem Kreis zerren kann, ist dann die richtige Mutter; Tschang-Haitang lässt das Kind aber fahren, weil sie es nicht verletzen will. Und Pao erkennt in ihr die wahre Kindesmutter und seine ehemalige Geliebte.
Zemlinskys Musiksprache
Die Klangwelt des Spätromantikers Alexander Zemlinsky erinnert in vielem an Mahler, Strauss und den frühen Schönberg. Sie enthält eine faszinierende Mischung von Dramatik und Lyrik, weiss die Balance aber durch hochsensible Durchdifferenzierung der eingesetzten vokalen und orchestralen Mittel zu erreichen. So pendelt die Partitur situationsgemäss von kammermusikalisch feinen Lyrismen zu hochdramatischen Ausbrüchen und von musikalisch subtil gestützten Sprechpartien zu orgiastischen Aufschwüngen.
Zemlinskys Musiksprache benützt so heftige Gegensätze wie den spätromantischen Sensualismus und den jazzigen Songstil von Kurt Weill entstanden ist ein Meisterwerk, das alte, neue und ganz moderne Ausdruckselemente zur harmonischen Einheit verbindet. Der Grosserfolg der Zürcher Premiere lässt übrigens hoffen, dass Zemlinskys siebente (und vorletzte) Oper den Weg zurück in das Repertoire gefunden hat.
Die Zürcher Wiedergabe
Im staunenswerten Grossausstoss von Zürcher Premieren gibt es naturgemäss Triumphe und Misserfolge. Dieser «Kreidekreis» von Klabund/Zemlinsky gehört zweifellos zu den bedeutendsten Opernhaus-Produktionen der letzten Monate und Jahre.
Der amerikanische Dirigent Alan Gilbert stellt sich als fein differenzierender und gleichzeitig auch klangrauschsüchtig akzentuierender Pultstar vor: ein Neuengagement, das für die Zukunft einiges verspricht. Gilbert scheint sich auch mit dem Orchester vorzüglich zu verstehen am einwandfreien Kontakt zwischen Graben und Bühne fehlte es nicht.
Der Regisseur David Pountney hatte sich von seinem Ausstatter Johan Engels zwei Ebenen herstellen lassen: Vorne sitzen, stehen und spielen die Sprecher, hinten, leicht erhöht, agiert das Sängerensemble. Mit diesem Kunstgriff und mit einer hochprofessionellen Darstellerführung erzielt Pountney bemerkenswerte Klarheit und Übersichtlichkeit das zweieinhalbstündige, pausenlos durchgespielte Werk strahlt durchgehend unwiderstehliche Atmosphäre aus und lässt an der menschlich ergreifenden Handlung unmittelbar teilnehmen.
Sänger und Sprecher
Vorzügliches leistet das Ensemble an seiner Spitze Brigitte Hahn als rührende, intensive und makellos singende Tschang Haitang, Rodney Gilfry als baritonal auftrumpfender Bruder Tschang-Ling, Laszlo Polgar als erst brutal-egozentrischer und dann langsam auftauender Mandarin Ma und (mit einer Meisterleistung) Cornelia Kallisch als geld- und machtgierige Yü-pei. Als Kuppler Tong überzeugt Peter Keller, als Frau Tschang Irène Friedli, als intrigierender Tschao Oliver Widmer und als käufliche Hebamme Katharina Peetz. Francisco Araiza stellt die Reste seiner einstmals weltberühmten Stimme dem Prinzen Pao zur Verfügung und bei den vorzüglichen Sprechern (erwähnenswert Peter Arens, Louise Martini und Bernhard Bettermann) fällt nur Aniko Donath durch einen eklatanten Mangel an Poesie und Verinnerlichung negativ auf.