Sibylle Ehrismann, Zürcher Oberländer (21.10.2003)
Im Opernhaus Zürich feiert «Der Kreidekreis» von Alexander Zemlinsky Premiere.
Das war ein Abend! Im Opernhaus Zürich hatte am Sonntag mit Alexander Zemlinskys Oper «Der Kreidekreis» eine in jeder Hinsicht gelungene Produktion Premiere. Die überraschend transparente, von raffinierten Farben und stringenter Leitthematik getragene Musik wurde vom jungen amerikanischen Dirigenten Alan Gilbert vielschichtig und spannend ausgedeutet. Und Regisseur David Pountney hat die heikle Balance zwischen Melodram und Oper mit präziser Personenführung und viel sagenden schlichten Bildern optimal getroffen. So gab es nach zweieinhalb Stunden ohne Unterbruch langen und einhellig begeisterten Applaus.
Motiv lag im Trend
Das Motiv des «Kreidekreises» lag damals, vor gut 70 Jahren, in der Luft. Bertolt Brecht hat darüber seinen «Kaukasischen Kreidekreis» gedichtet, das chinesische Symbol aber war vom orientalisch begeisterten Dichter Klabund aufgegriffen worden. Alexander Zemlinsky, der sich für seine Oper auf Klabunds Dichtung stützte, war ein gefeierter Operndirigent am Neuen Deutschen Theater in Prag, hat aber als Opernkomponist nie nachhaltigen Erfolg gehabt. In diesem Spätwerk jedoch zeigt er sich als Meister kammermusikalischer Dichte und dramaturgischer Stringenz und weiss die heikle Mischform von Melodram und Oper überzeugend durchzugestalten.
Die Geschichte handelt vom Elend einer chinesischen Familie Tschang, deren Vater sich wegen der harten Steuereinforderungen des Herrn Ma umbringt. Das nötigt die verarmte Mutter, ihre sechzehnjährige Tochter Haitang an ein «gehobenes» Freudenhaus und damit an einen Kuppler zu verkaufen. Hier wird sie zuerst vom Prinzen Pao zum «Spiel» aufgefordert, dann aber muss sie dem gewalttätigen Ma folgen, der einen hohen Preis für die Unberührte bezahlt. Dessen Hauptfrau Yü-pei aber wird aus Eifersucht und Habgier zur Mörderin und schiebt die Schuld am Giftmord an ihrem Mann öffentlich der Nebenfrau in die Schuhe. Diese wird zum Tode verurteilt, doch zum Schluss wird alles gut.
Traumhafte Utopie
Es ist eben dieser überhöhte Gerechtigkeitsschluss, dem Pountney mit einem brillanten Regieeinfall das allzu Pathetische nimmt. Die Szene vor dem gerechten Kaiser wird zur traumhaften Utopie der zu Unrecht Verurteilten. Pountney lässt diese nämlich im Marsch durch den Winter zusammenbrechen; sie kommen gar nie beim Kaiser an. Am Schluss liegen die Gefangenen wieder dort, wo der Traum von der Gerechtigkeit begonnen hat: zusammengebrochen in der Winterlandschaft.
Das Schwierige an Zemlinskys Oper ist, dass so viel gesprochen wird. Deshalb entschied man sich in Zürich, die jeweiligen Rollen je mit einem Sänger und einem Schauspieler zu besetzen. Das hat zur Folge, dass sich die Sängerin auf der Bühne befindet, während «ihre» Schauspielerin für sie spricht. Pountney löst diese Trennung zwischen Melodram und Oper jedoch mit fliessendem Übergang. Die Schauspielerinnen und Schauspieler sitzen vorne am Bühnenrand, aber unterhalb der Spielebene. Sie haben je eine kleine Box und einen Stuhl für sich. Immer wieder aber blicken sie auf die Bühne und nehmen mit «ihrer» Figur Sichtkontakt auf, die Grenze wird so «überspielt».
Doppelbesetzungen
Das geht aber nur gut, wenn sich die Sänger entsprechend «schauspielerisch» bewegen. Zum Beispiel die Auftrittszene von Cornelia Kallisch als eifersüchtige Yü-pei, in welcher sie mit der für sie sprechenden Louise Martini sich selber vorstellt: Kallisch tritt mit knallrotem Kleid vor die grauschwarze Wand, und sie bewegt sich zum Rhythmus der Musik fast schon surreal und mit überzeugender herrischer Spannkraft im Körper - eine eindrückliche Szene. Der einzige der Sänger, der auf der Bühne selber spricht, ist Peter Keller als Kuppler Tong. Zuerst erkennt man ihn kaum, denn er spricht die ganze Zeit auf die Mutter und ihre Tochter ein, und er tut das mit unerhörter Diktion. Und plötzlich beginnt er zu singen, mit seiner so typischen, nasalen Stimme - ein unvergesslicher Moment.
Eine lyrische Wandlung
Das wohl interessanteste Paar ist Lászó Polgár zusammen mit Peter Arens in der Rolle des Ma. Sie passen ausgezeichnet zusammen, beiden gelingt der Wechsel vom rücksichtslosen Egoisten zum über die Liebe von und zu Haitang weich gewordenen alten Mann mit lyrischem Tiefgang. Stark ist auch der kurze prägnante Auftritt von Irène Friedli und Louise Zimmermann als verzweifelte und doch geldgierige Mutter, während Rodney Gilfrey und Andreas Zimmermann den aufbrausenden, revolutionär denkenden Bruder Ling mit der nötigen Haltlosigkeit des Hasses glaubhaft porträtieren.
Das alles spielt sich in einem relativ schlichten Raum ab, dem der grosszügige Mosaik-Boden das Gepräge gibt. Auf ihm leuchtet jeweils der «Kreidekreis» auf, wenn von ihm die Rede ist. Der milde Frühling der Liebe spielt sich in einem Garten mit grünen Bambusstangen ab, die später dann in der Winterszene weiss und tief verschneit sind. Da diese schlichten Stimmungen von Jürgen Hoffmann sehr schön und mit subtilen Nuancen geleuchtet werden, haben diese Bilder eine magische Wirkung.
Machtgekreisch und Liebeslaute
In dieser ästhetisch abstrahierten Szenerie entfalten sich die Sänger und die Musik farbig und mit rhythmischer Kraft. Da stehen sprechrhythmische Songs à la Kurt Weill neben dunklen weitatmigen Kantilenen. Da prallen Macht-Gekreisch und die leisen Töne der Liebe aufeinander, Saxofon und Schlagzeug kommen genauso vor wie die Mandoline.
Diese stilistische Vielfalt weiss Zemlinsky mit dichter thematischer Arbeit und stringenter Leitmotiv-Technik zu verbinden, was der Dirigent Alan Gilbert mit den Zürcher Orchestermusikern auch genau so umsetzt. Nichts wurde übertrieben oder ausgeschlachtet, das Spiel der Farben diente dem Inhalt ebenso wie die vielen Wechsel im Rhythmischen.
Dies war der musikalische Boden, welcher auch der in Zürich debütierenden deutschen Sängerin Brigitte Hahn in der Hauptrolle der Haitang enorme Entfaltungsmöglichkeiten gab. Auch wenn sie anfangs als eingeschüchtertes Mädchen etwas gar deutschstämmig und körperfüllig wirkte, sie vermochte in dieser physisch sehr anstrengenden Partie die Kraft der leisen Töne mit glaubhafter Tragfähigkeit zu verkörpern. Schade nur, dass ihre Schauspiel-Partnerin Anikê Donáth beim Sprechen etwas zu manieriert dem Rhythmus der Musik folgte und damit die Natürlichkeit verspielte, die ihre Kollegen so bravourös ausspielten.