Urs Bugmann, Neue Luzerner Zeitung (12.09.2006)
Sänger, Tänzer, Schauspieler, Orchester und grosser Chor treten in der Inszenierung der «Dreigroschenoper» am Luzerner Theater auf: wenig Brecht und viel Hochglanz.
Es ist eine andere Art von Verfremdungseffekt: das Gaunerstück aus Soho als grosse Gala. Massig und stimmstark singt der Chor: «Bedenkt das Dunkel und die grosse Kälte / In diesem Tale, das von Jammer schallt.» Von Jammer keine Rede: Die Bettler mit ihren aufgeschminkten Blessuren, mit nicht ganz neuen, aber tadellosen Armeewolldecken, die Huren in vielfarbig reich verzierter Reizwäsche, Miss Peachum im dicken Pelzmantel, Herren in Smokings und mit Sektgläsern. Hier spielt die Halbwelt grosse Welt. Das hat auch seine Richtigkeit, denn erstens ist das Weltbild auch nicht mehr so einfach wie noch zu Brechts Zeiten, und zweitens sind die Unterschiede von unten und oben vor lauter Schein hier wie dort kaum mehr auszumachen.
Mit Kunst und Können
Die Luzerner «Dreigroschenoper» ist üppig angerichtet. In die Rollen teilen sich Schauspieler und Sängerinnen. Mit Kunst und Können singen die (Mezzo-)Sopranistinnen Tanja Ariane Baumgartner (Frau Peachum), Anna Prohaska (Polly Peachum) und Susanna Maria Kitzl (Lucy). Zu schön fast, und leider ist der Text nicht immer ganz zu verstehen. Mackie Messer (Jürgen Sarkiss), Jonathan Peachum (Jörg Dathe) und die Hure Jenny (Susanne Bard) sind von Schauspielern gespielt. Jörg Dathe tritt stimmgewaltig auf und parodiert klangecht das Responsorium aus der Kirche. Susanne Bards dunkel gefärbte Stimme, ist passgenau richtig für die Songs von Brecht und Weill.
Das Tanzensemble von Verena Weiss ist mit von der Partie und füllt die Bühne schon gleich zu Beginn mit wirblig wildem, streng abgezirkeltem Bewegungstheater, wenn auf dem Jahrmarkt von Soho «die Bettler betteln, die Diebe stehlen, die Huren huren». Die Sätze liest Peachum aus einem Missale, und er variiert, bis die Huren stehlen und die Bettler huren.
Es ist viel Betrieb auf der Bühne, viele Detailstudien sind in Gestik und Gänge eingeflossen. Wenn Polly davon singt, wie oft sie Nein gesagt und dann Ja, «da muss man sich doch einfach hinlegen», nimmt sie Mutter und Vater Peachum als Spielfiguren, mit denen sie ihren Text verbildlicht.
Im Hintergrund der Bühne, doch mit sattem Klang spielt das Luzerner Sinfonieorchester mit Bläsern und Cello und Kontrabass, Schlagzeug, Banjo, Mandoline und Klavier. Als Blinder sitzt Marcelo Ninsinman mit Bandoneon im Rollstuhl. John Axelrod dirigiert, die Musik spielt untadelig, und Kurt Weills Komposition lässt ihre fein gestrickten Muster hören. Das klingt besonders schön bei den Zwischenspielen. Für die Lieder scheint der Wohlklang hin und wieder allzu ausgefeilt, um wahr zu sein.
Und dabei ist doch dieses Stück mit Liedern über die Unmöglichkeit, ein guter Mensch zu sein, wenn man es sich nicht leisten kann, noch genauso wahr wie vor bald 80 Jahren, da es geschrieben wurde. Oder wenigstens ein bisschen wahr. Denn noch immer kommt «erst das Fressen, dann die Moral», und «die Verhältnisse, sie sind nicht so».
Familie Biedersinn
Regisseurin Vera Nemirova verlegt das Ambiente in die 1970er-Jahre (Kostüme: Klaus Werner Noack). Das Bühnenbild von Werner Hutterli zeigt einen Laufsteg über den Köpfen und ein mächtiges Stahl-Abflussrohr macht sichtbar, dass die Geschichte hinter der Vorzeigefassade im Untergrund spielt. Herr und Frau Peachum sind ein sauber ausstaffiertes spätbürgerliches Paar, Familie Biedersinn mit brav gesellschaftsfähiger Tochter wenn da nur nicht «die sexuelle Hörigkeit» wäre. Die treibt dies Biederkind in die Arme des Gauners Mackie Messer, den sie in der Hochzeitsnacht mit tolldreister Akrobatik liebt. Da geht es in Unterwäsche strikt zur Sache. Auch sonst ist die Inszenierung in körperlichen Dingen nicht zimperlich. Es ist ein Fest für Aug und Ohr, es ist grosse Oper aber zu wenig Brecht, der es doch eher proletarisch gemeint hat. Aber vielleicht versteckt sich das Proletariat von damals heute auch schon im Wohlstand.