Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (08.07.2003)
Zürcher Festspiele:
«Invocation» von Beat Furrer in der Schiffbauhalle
Längs, auf ansteigenden Stufen, sitzen wir in der Zürcher Schiffbauhalle. Gegenüber, ebenfalls im ersten Stock, die Spielfläche; sie führt von weit links nach weit rechts - grösste Distanz ist da möglich. Dazwischen schliesslich (und abgesenkt ins Parterre) das Ensemble Opera Nova, das sich aus Mitgliedern des Zürcher Opernorchesters zusammensetzt - und da fallen gleich zwei Dinge auf. Die Musikerinnen und Musiker sind Kellnerinnen und Kellner. Nicht etwa weil sie bedienen, die Sänger begleiten würden; dem Instrumentalen kommt hier vielmehr konstituierende Funktion zu, und das Ensemble macht es unter der Leitung des Komponisten in der schönsten Weise hörbar. Kellnerinnen und Kellner darum, weil «Invocation», die nunmehr vierte Oper von Beat Furrer, die im Rahmen der Zürcher Festspiele zu erfolgreicher Uraufführung gekommen ist, das Handlungsgerüst von «Moderato cantabile» bezieht, einem Roman von Marguerite Duras, der über weite Strecken in einem Café spielt.
Die Geschichte der Fabrikantengattin Anne, die mit einem seltsamen, offenbar aus Liebe begangenen Mord konfrontiert wird, die in der Folge den Vorfall zu ergründen sucht und dabei in den Sog einer ebenso heftigen wie zerstörerischen Begegnung mit einem Unbekannten gerät - diese Geschichte wird zu Beginn in kurzen, hastig hervorgestossenen Sätzen rekapituliert. Denn da ist das andere, was beim Blick ins Ensemble auffällt: Im Rund sitzen auch zwei nahezu gleich aussehende Damen, wasserstoffblond, beiger Regenmantel. Die eine ist die Schauspielerin Olivia Grigolli (Anne), die mit ihrer Sprechkunst und ihrer körperlichen Beweglichkeit den Abend prägt, die andere die Flötistin Maria Goldschmidt, die mit ihren vielgestaltigen Klängen das Alter Ego der Protagonistin abgibt. Bald nämlich greifen die Instrumente in die Sätze der Schauspielerin ein: mit denselben kurzen und hervorgestossenen, zudem ultraleisen und zaghaft vom Geräusch zum Klang findenden Tonfetzen. Plötzlich allerdings kommt es zu einem Ausbruch - womit wir mitten drin wären.
Ins Licht geraten an dieser Stelle die zweimal drei Damen und die zweimal drei Herren des schlechterdings phänomenalen Vokalensembles Zürich (Leitung: Peter Siegwart). Ein extrem dichter, aber bloss geflüsterter, flackernder Satz für vier Stimmen und Streichquartett stellt ein Gedicht von Cesare Pavese vor, das von Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit spricht. In den ursprünglich von Beat Furrer und Ilma Rakusa eingerichteten, für die Uraufführung aber noch einmal veränderten Text von «Moderato cantabile» hat der Komponist Poesie eingelassen, die das Geschehen mit dem Mythischen verbindet und damit ins Grundsätzliche weiterzieht. Die Zeit wird angehalten und geht doch weiter - das ist eine der Quellen, aus denen das Musiktheater von Beat Furrer seine ganz einzigartige Spannung gewinnt.
Dem Regisseur stellt sich hier die schwierige Aufgabe, etwas sichtbar werden zu lassen, ohne banal zu bebildern. Christoph Marthaler und seine Mitarbeiterin Annette Kuss haben einen Weg gefunden, der den Intentionen des Komponisten kongenial entspricht. Während die Kostüme von Annabelle Witt die Damen und Herren als gutbürgerliche Ehepaare im Stil der fünfziger Jahre vorstellen und damit auf den Roman von Duras verweisen, spielt das szenische Geschehen davon unabhängig mit dem Erzeugen der Musik an sich - ein Rückgriff auf die Fundamente wie bei Beat Furrer, für den allein schon das Verklingen eines Tones ein Drama abgibt (vgl. NZZ vom 5. 7. 03). So hantieren die Mitglieder des Chors phantasievoll mit ihren Stimmgabeln, öffnen sie weit den Mund für eine endlich herausgestossene Kurznote und stellen sie sich an die Rampe, um unverrichteter Dinge wieder abzuziehen. Das ist so vergnüglich, wie es wieder jene ganz eigene Menschenliebe erkennen lässt, welche die Theaterarbeit Marthalers kennzeichnet.
Und dann ist es so weit, schlägt die Stunde der Sopranistin Alexandra von der Weth, welche die dritte Verkörperung der Hauptfigur Anne darstellt. Ebenfalls wasserstoffblond, ebenfalls im beigen Regenmantel, sitzt sie ganz aussen auf einer jener vier Bänke, die auf der Spielfläche aufgereiht sind. Auf der anderen Seite die Schauspielerin Olivia Grigolli, die sich stumm, aber beredt in eine Sehnsucht hineinträumt. Die Flötistin Maria Goldschmidt wiederum hat sich aus dem Ensemble entfernt und dialogisiert mit der Sängerin - wobei auch diese Klänge durch das Freiburger Experimentalstudio diskret verstärkt und in den Raum projiziert werden. Ein anonymer spanischer Text aus dem 16. Jahrhundert, er handelt von Himmel und Hölle und der Liebe, findet sich wieder in einer unglaublich virtuosen und zugleich hochexpressiven Folge von gehauchten Tönen, explodierenden Konsonanten und rasend schnellen Wiederholung von Wortfetzen - hinreissend, wie die Sängerin das bewältigt.
Da kommt es nun gefahren, langsam und nahezu geräuschlos: das Haus mit dem kleinen Balkon und den vier offenen Wänden, das die Bühnenbildnerin Bettina Meyer hat erbauen lassen. Es ist zunächst das Haus der Fama, in dem, wie es Ovid in den «Metamorphosen» beschreibt, alle Gerüchte der Welt zusammenkommen. Einen liegenden und zugleich oszillierenden, vor allem aber unglaublich schönen Klang breiten Chor und Ensemble in dieser Szene aus. Wieder ist die Zeit angehalten und geht sie doch voran, wieder geschieht nichts und doch so viel. Ganz kleine Dinge lassen sich beobachten, etwa jenes Paar, das sich gegenübersteht und beharrlich aneinander vorbeischaut, oder die Füsse, die dank einer leisen Clownerie mit dem vorbeifahrenden Fussboden zurechtkommen. Und reiche Anregung gibt es fürs Ohr - sei es, dass man sich der Obertonstudie dieses Liegeklangs hingibt, sei es, dass man in seine Verästelungen hineinhört.
Aber da ist noch einer, ein Mann mit etwas langen Haaren, auch er im Regenmantel. Ganz rechts aussen sitzt er und trommelt mit seinen Händen auf die Beine. Es ist Er, der bei Marguerite Duras Chauvin heisst, bei Beat Furrer aber namenlos bleibt. Ein kurzer, wiederum etwas atemloser Dialog weitet das Stück für einen Moment aus dem Monolog hinaus, aber wie das Instrumentalensemble einfällt, brechen die Sätze wieder ab. Der Mann - Robert Hunger-Bühler macht das grossartig - versinkt wieder in sein Brabbeln; später widmet er sich jener Baguette, deren Berücksichtigung beim reichlichen Genuss des roten Weins sich vielleicht doch empfiehlt. Anne hält sich nicht daran, sie flüchtet in den Rausch.
Schliesslich das zentrale siebte Bild, in dem das bewegliche Haus zur Villa wird; dort findet jenes Diner statt, bei dem der Salm wie in einem Opferritual verschlungen wird und bei dem Anne in aller Öffentlichkeit zu erkennen gibt, dass sie sich aus ihrer Gesellschaft verabschiedet hat. Eine Invokation, eine grosse Anrufung des Gottes Dionysos hat Beat Furrer hier vorgesehen, und die orphische Hymne, die er seiner Musik zugrunde legt, fasst die Spannung zwischen dem Wunsch nach Entgrenzung und deren fatalen Folgen in einer Reihe einfacher Adjektive. Eine orgiastische Klangkaskade, wie sie bei diesem Komponisten noch nie da gewesen scheint, breitet sich in den Raum aus, aber auch hier bleibt die unglaublich bewegte, das Geschehen aus dem Innersten und dem Kleinsten heraus mit Energie erfüllende Handschrift Beat Furrers unverkennbar.
Der Rest ist Unmöglichkeit: eine triste Coda. Zu gross der soziale Abstand zwischen der Fabrikantengattin und dem Arbeitslosen, zu stark die Angst vor der elementaren Kraft des Eros - die vergeblichen Blickwechsel, die abgebrochenen Annäherungsversuche, die sich an den kurzen Gesten der Partitur orientieren, machen es nur zu deutlich. Noch einmal die Sängerin von ganz links aussen, noch einmal das Spanische, Juan de la Cruz diesmal: «De mi amado bebí», «Ich habe von meinem Geliebten getrunken.» Nach neunzig Minuten so unopernhafter wie spannender und bewegender theatralischer Musik, nach einem Beispiel aus Musik geborenen und zu Musik gewordenen Theaters finden wir uns wieder auf den harten Sitzen der Zürcher Schiffbauhalle. Einen erstklassigen Abend hat das Opernhaus in Zusammenarbeit mit dem Schauspielhaus den Zürcher Festspielen da gebracht. Das Stück wie seine Realisierung werden jedenfalls noch manchen Gedanken auslösen.