Theater im Theater, von gestern

Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (03.06.2003)

Don Quichotte, 01.06.2003, Zürich

Massenets «Don Quichotte» im Zürcher Opernhaus.

Schon im Roman von Cervantes ist Don Quichotte eine Gestalt aus anderer Zeit, Repräsentant eines überlebten Rittertums, Streiter für das Edle und Gute. Doch den Idealen, für die er eintritt, verdankt er seine Unsterblichkeit. Auch Piero Faggionis Inszenierung der «Don Quichotte»- Adaption von Jules Massenet ist nicht von heute. 1982 erlebte sie in Venedig ihre erste Premiere, elf weitere Einstudierungen auf drei Kontinenten folgten. Jetzt ist sie in Zürich angelangt. Eine Musteraufführung demzufolge, zeitlos wie der Ritter von der traurigen Gestalt? Nein, diese Einstudierung hat sich definitiv überlebt, und man versteht nicht, weshalb das Opernhaus in seiner mit «Hérodiade», «Werther» und «Thérèse» begonnenen Massenet-Retrospektive für «Don Quichotte», eines der Hauptwerke, gerade auf Faggioni verfallen ist.

Der italienische Theatermann hat als Regisseur, Ausstatter und Lichtgestalter in Personalunion der Comédie héroïque gleich einen doppelten Überbau verpasst. Ein pantomimisches Vorspiel (zur Entracte-Musik vor der Sterbeszene) zeigt Don Quichotte mit einem Folianten in einer Dachkammer: Der Held liest im Buch seines abenteuerlichen Lebens. Dieses Bild verwandelt sich dann in den eigentlichen Schauplatz, einen zum Kohlelager umfunktionierten Kornspeicher mit portalartiger Öffnung und Galerie. Allerdings muss man das Programmheft konsultieren, um dieses Bauwerk identifizieren zu können, denn Faggionis Bühne bleibt in allen fünf Akten dunkel und schummrig. Der zweite Überbau, nach der Rückblendeperspektive, besteht darin, dass die Handlung von einer Wandertruppe als Theater im Theater dargestellt wird. Auch das Publikum (in Kostümen aus der Entstehungszeit der Oper) fehlt nicht, unten, nahe am Geschehen, die Proletarier, oben auf der Galerie, distanziert, die reichen Bürger.

Wie viel Probezeit ist wohl investiert worden in die Organisation der vielköpfigen Statisterie und des Chores, das Timing des Armeschwenkens, die Erzeugung der Nebelschwaden und Projektionen, die Flügelschläge des Pegasus, die Bewegungen von Don Quichottes Rosinante und Sancho Pansas Esel, den Schneefall in der Sierra, das Rotieren der Windmühleräder, die Integration der Tanzszenen? Zeit, die offensichtlich bei der Ausarbeitung der Rollenporträts gefehlt hat. Dass Ruggero Raimondi sich auf der überfüllten Bühne als Protagonist behaupten kann, ist einerseits seiner natürlichen darstellerischen Autorität, anderseits seiner Vertrautheit mit der Inszenierung zu verdanken. Seine grossen, prägnanten Gesten und seine ausdrucksvolle Mimik bleiben auch unter solchen szenischen Gegebenheiten noch lesbar. Und wie er die Partie - 26 Jahre nach seinem Don-Quichotte-Début in Zürich - sängerisch gestaltet, hat imposantes Format: mächtig auftrumpfend in der Heldenpose, bezwingend suggestiv in der «Bekehrung» der Räuber, ergreifend zart im Schmerz nach Dulcinées Verweigerung und in der Sterbeszene.

Während Raimondi mit souveräner Meisterschaft «seinen» Don Quichotte gibt, fasziniert Vesselina Kasarovas Dulcinée-Début gerade deshalb, weil es die Mezzosopranistin auf dem Weg zu einem eigenen Rollenbild zeigt, einem Rollenbild, das ganz aus ihrem Stimmcharakter entwickelt ist. Kasarovas Dulcinée hat in Erscheinung und vokalem Volumen durchaus die Allüre der mondänen Kurtisane, aber was sie menschlich gross macht, ist die Empfindsamkeit, die sich in den subtilen Schattierungen ihres Timbres ausdrückt. Unvergesslich die Szene, da Dulcinée den Heiratsantrag Don Quichottes, der sich am Ziel seiner Träume glaubt, zurückweist. Da werden Lachen und Schmerz, Härte und Mitleid gleichsam in einem Atemzug Klang. Es schwingt in dieser «voix enjôleuse» so viel Melancholie und Sehnsucht mit, dass Dulcinée als Geistesverwandte, als weibliches Pendant Don Quichottes erscheint. Doch die Oper hätte noch eine dritte Hauptfigur, den treuen Diener und Freund Sancho Pansa. Ihn lässt Faggioni buchstäblich im Schatten stehen, obwohl Carlos Chausson die ihm neue Partie mit Hingabe und ebenso differenziertem wie intensivem Ausdruck singt.

Dass Alexander Pereira als musikalischen Leiter dieser Aufführung Vladimir Fedosejev verpflichtet hat, mochte zunächst trotz der russischen Aufführungstradition des 1910 von Schaljapin aus der Taufe gehobenen Werkes erstaunen. Fedosejev legitimiert die Wahl mit seiner grossen klanglichen Sensibilität und rhythmischen Geschmeidigkeit, und das Orchester setzt etliche solistische Glanzlichter. Die Forte-Teile allerdings klingen zu wenig durchgeformt, zu einförmig laut. - Was hätte mit dieser Besetzung aus Massenets letzter Oper werden können …