Revue der Dummheiten

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (12.09.2006)

Die Dreigroschenoper, 10.09.2006, Luzern

Vera Nemirova frischt in Luzern die «Dreigroschenoper» auf

Im Brecht-Jahr die «Dreigroschenoper» aufzutischen, ist nicht sehr einfallsreich. Aber die Luzerner Aufführung hat das Zeug zum Saisonrenner.

Bis der reitende Bote eintrifft und Mackie Messer kurz vorm Erhängen begnadigt, dauert es auch im Luzerner Theater ziemlich lange. «Die Dreigroschenoper» von Brecht und Weill ist auch hier buchstäblich abendfüllend, und es braucht seine Zeit, bis der Bettler-Unternehmer Peachum seine zynische Lebensphilosophie vom Stapel gelassen, die Hure Jenny ihre aus Mitgefühl und Brutalität gemixte Seele geoffenbart und Töchterchen Polly seine verzweifelte Liebe zum Berufsgangster Macheath ausgelebt hat.

wohllaut. Aber die Zeit, die ist ein seltsames Ding, und sie vergeht im Luzerner Theater ein bisschen schneller als auch schon. Das liegt an der Inszenierung von Vera Nemirova und an der musikalischen Umsetzung unter dem Dirigenten John Axelrod, der mit seinem Orchester die ganze Fülle des Weill’schen Wohllauts vom Blechbläserchoral bis zum fetzigen Shimmy ausbreitet. Das ist immer wieder eine Ohrenweide.

Die Regisseurin Vera Nemirova ist als Meisterschülerin von Peter Konwitschny bekannt geworden, der seinerseits als Meisterschüler der grossen Ruth Berghaus gilt › direkte Brecht-Linie also. Doch von musealer Theater-Orthodoxie kann keine Rede sein. Die Nemirova gibt dem Theater, was es durch falsch verstandene Ernsthaftigkeit vielfach verloren hat: seinen Unterhaltungswert. Das beginnt schon in der Ouvertüre mit dem von Verena Weiss köstlich streng choreografierten Bettlerballett und zieht sich durch bis zu den filmreifen Slapstick-Zankereien der Flittchen Polly und Lucy, die beide vom selben Macheath bestiegen und betrogen werden wollen.

Ja, die Frauen. Auf sie wirft die Regie ein sehr genaues und auch gnadenloses Auge. Sie sind entweder geil bis auf die Knochen wie Anna Prohaskas exzellent singende Polly, unerträglich bigott wie die Monty-Python-Mutter von Tanja Ariane Baumgartner, verrucht wie die Hure Jenny mit ihrem schneidenden Bariton (Susanne Bard) oder streitsüchtig wie die scheinschwangere Lucy von Susanna Maria Kitzl. So frauenfeindlich darf heute wahrscheinlich nur eine Frau inszenieren.

akrobatik. Macheath ist in der Verkörperung durch den herzhaft ungehobelt singenden und umso akrobatischer liebenden Jürgen Sarkiss ein rechter Waschbrettbauch-Chauvi, und Jörg Dathe stattet die Figur der Unternehmer-Parodie Peachum mit so viel Bibelvers-Schmierigkeit aus, dass man glatt auf dem Parkett ausrutschen könnte. Eine fabelhafte Ensembleleistung des kleinen leistungsfähigen Hauses, die jeden Subventionsfranken wert ist.