Torbjörn Bergflödt, Aargauer Zeitung (08.07.2003)
Zürcher Festspiele Beat Furrers Oper «invocation» im Zürcher Schiffbau uraufgeführt
Beat Furrers neues Musiktheaterwerk, inszeniert von Christoph Marthaler, führt in ein mehrperspektivisches Labyrinth der Fragmente und Motivpartikel.
Hinten die ehemalige Industriehallenmauer. Verwittert, besetzt von Spuren rätselhafter Einstmals-Technik. Oben wulstet frisches Elektrokabelgedärm. Vor der Wand das «eigentliche» Bühnenbild - eine Totalabsage im Cinemascope-Format an eine herkömmliche Guckkastenbühnen-Ästhetik. Lang zieht sich der Promenadensteg. Parkbänke stehen drauf und ein Häuschen, das hin und her fahren kann. Stiegen und Leitern führen zum Boden, wo weitere Bänke stehen. Zusammen mit dem auf dem Boden in der Mitte platzierten Instrumentalensemble wird uns hier ein Musiktheaterstück vorgespielt, in dem die Koordinaten des Genres verrückt scheinen bis hin fast zum Rätselspiel.
Mit der linear durcherzählten, narrativ von A bis Z führenden «Oper» jedenfalls hat es kaum noch etwas gemein, das Acht-Bilder-Stück von Beat Furrer mit dem Titel «invocation». Assistiert von der Übersetzerin und Schriftstellerin Ilma Rakusa, hat Furrer Text-Fundstücke zusammengestellt auf der Hauptgrundlage von Marguerite Duras´ Roman «Moderato cantabile». Im Gerüsttext geht es um die verheiratete Anne, die, nach einem Mord in der Kleinstadt, mit der bürgerlichen Welt bricht und am Ende ins Offene entlassen wird. Wichtiger als die Kaum-Handlung ist das Thema der Grenzüberschreitung, der Kräfte, die ein geregeltes Leben aus der Bahn werfen können. Der Rausch - des Eros, des Sich-Betrinkens - überwindet Grenzen. Zugleich aber bedeutet er Zerstörung.
Die Musik wird zum Spiegel solcher Vexierspielhaftigkeit. Vom 20-köpfig besetzten Orchester «Opera nova» der Oper Zürich dringen kleinräumige, abwechslungsreich gefilterte Klänge und Klangpartikel zur Zuschauertribüne empor. Es sind oft flimmernd-flackernde Impulse und Impülschen. Unter der Leitung des Komponisten wurde die Partitur im Schiffbau wunderbar genau ausgehorcht. Plötzlich konnte es geschehen, dass das Orchester den leisen Innerlichkeitsbezirken Valet sagte und Forte-Ausbrüche wagte. Die Stimmen der Akteure tasteten verschiedenste Zwischenstufen ab zwischen geräuschhaft verfremdetem Stimmklang, Sprechen und «kultiviertem» Operngesang, wobei die Flöte (auch) die Rolle einer Mittlerin zum Orchester hin übernahm.
Das Regie-Duo Christoph Marthaler und Annette Kuss bedeutet einen Glücksfall für dieses Stück. Denn einerseits leistet es Deutungsstützen, und andererseits fächelt es dem Werk Sauerstoff zu. Bettina Meyers Bühne liesse sich sinnfälliger kaum denken für ein prozessuales Gefüge wie dieses Musiktheater. Dass die Frau und der Mann hier nicht zusammenfinden, zeigen Marthaler und Kuss auch etwa, indem sie sie «raumspreizend» positionieren. Der Chor wird zu einem Verbund maskenhafter Spiesser im vollen Dutzend bis zum gestaffelten Einzelauftritt - ohne platte Denunziation und nie gegen die Musik gerichtet, in jener langsam-still-schrulligen Art, wie sie Marthaler-Inszenierungen eignet. Peter Siegwart hat das Vokalensemble Zürich musikalisch sehr sorgfältig einstudiert, sodass die Silbenklangexperimente glücken.
Die Anne von Marguerite Duras erscheint bei Furrer gesplittet in eine Anne selbdritt: Die Sopranistin Alexandra von der Weth, die Schauspielerin Olivia Grigolli und die Flötistin Maria Goldschmidt loteten die Metamorphosen dieser «Sie» mit den je eigenen Mitteln ausdrucksstark aus. Zu dieser «Sie» gab Robert Hunger-Bühler einen clochardesken «Er» von unüberbietbarer Lakonik samt weltverloren zelebriertem Pariserbrot-Mahl und einigen rasch zufahrenden Momenten mit «Thriller-Suspense».