«Das Brausen des Meeres steigt ins Schweigen»

Andreas Klaeui, Basler Zeitung (08.07.2003)

invocation, 06.07.2003, Zürich

Uraufführung von Beat Furrers «invocation» bei den Zürcher Festspielen

Ungewöhnlich viel abendliches Schwarz und Lang gabs am Sonntagabend in der Zürcher Schiffbauhalle: Die grosse Festspiel-Opernpremiere fand für einmal extra muros in Zürich-West statt, mit Christoph Marthalers Uraufführungsinszenierung von Beat Furrers «invocation», einem Auftragswerk des Opernhauses in Koproduktion mit dem Schauspielhaus. Ungewöhnlich wenig Abendliches dagegen im Orchester, das, seine traditionelle Funktion im Musiktheater ironisch unterstreichend, als Servierpersonal gekleidet war.

Als «Musiktheater in acht Teilen» bezeichnet der in Wien lebende Schweizer Komponist Beat Furrer sein Stück «invocation», es gliedert sich nach Texten von Juan de la Cruz, Ovid, Cesare Pavese und andern, die Hauptvorlage aber ist Marguerite Duras’ Roman «Moderato cantabile». So sollte die Oper ursprünglich auch heissen.

In Duras’ Roman mit dem musikalischen Titel begleitet eine Frau, Anne Desbarèdes, ihren Sohn in die Klavierstunde, eine seltsame Stimmung, «Das Kind rührt sich nicht. Stur. Manchmal glaube ich, ich habe dich erfunden. Fang an. Fang nochmal an, hab ich gesagt. Das Brausen des Meeres stieg ins Schweigen» heisst es in Furrers Libretto, dann ist aus einem Bistro auch ein Schrei zu hören, ein Mord, offenbar aus Liebe, das lässt die Frau nicht mehr los und sie geht von nun an täglich in das Bistro, trinkt Rotwein, verliebt sich in einen Zeugen - es gibt davon eine legendäre Verfilmung von Peter Brook aus dem Jahr 1960, mit Jeanne Moreau und dem jungen Jean-Paul Belmondo.

Hymnische Anrufung

Beat Furrers «invocation» ist aber nicht einfach eine Vertonung des Duras’schen Texts. Schon deshalb nicht, weil Furrer noch andere Texte hinzunimmt, Ovids Fama-Erzählung aus den Metamorphosen, eine hymnische Anrufung des Dionysos (daher der Titel «invocation») in formelhaften Attributen: «Agrion / Areton / Kryphion / Dimorphion - Grausamer, Unaussprechlicher, Verborgener, Zweigestaltiger...» Es ist auch deshalb nicht einfach eine Vertonung des Duras’schen Texts, weil Furrer in seiner Komposition weit mehr als den Worten und der Erzählung der Atmosphäre des Romans folgt.

Es geht um eine Frau, die erstaunt an sich feststellt, dass sie von etwas überwältigt wird, was sie nicht kennt. Die Grenzen überschreitet und ihre Welt verlässt und nicht weiss, wie ihr geschieht. In hypernervösen Sätzen beginnt die Schauspielerin Olivia Grigolli im Orchester sitzend mit Duras’ Text, «Fang an. Fang nochmal an, hab ich gesagt», und: «Der Duft der Magnolien ist so schwer.» Jäh fällt ihr Musik ins Wort. Furrers Musik in «invocation» ist ein tektonisches Flirren, sie wirft sich auf und bricht abrupt ab, eine aus ostinaten Mustern zusammengeschichtete Komposition, die unentwegt wuselnd und etwas hermetisch rotiert.

Doch trifft das mit seinem scharrenden Sichvortasten und sich immer gleich Zurücknehmen erstaunlich genau das Parfum von Duras’ Roman. Furrer hat die Anne-Figur auf drei Interpretinnen aufgeteilt, eine Sopranistin, eine Schauspielerin und eine Flötistin. Orchestrale und chorische Passagen (die äusserst konzentrierten Ensembles Opera Nova und Vokalensemble Zürich unter der Leitung des Komponisten) wechseln sich mit Sprechsequenzen der Schauspieler Olivia Grigolli und Robert Hunger-Bühler ab und mit dem Sopran-Solo im Dialog mit einer Bassflöte. Zu verstehen sind nur die Duras-Passagen bei den Schauspielern. Furrer benutzt auch das Textmaterial als Klangsteinbruch und splittet die Worte in klingende Bruchstücke. Immer wieder lässt er Sätze abbrechen, bleiben Silben in der Luft hängen, verglühen hastig hingeworfene Klangfragmente.

Die Sopranistin Alexandra von der Weth streicht manche Töne nur an (in dem Sinn, wie man ein Glas anstreicht), die Flötistin Maria Goldschmidt überhaucht ihre Töne manchmal nur, die Bewegung findet im Körper manchmal nur in Bruce-Nauman-artigen Zuckungen einen Ausdruck: ein Feld für einen Regisseur wie Christoph Marthaler. Er findet ein überraschendes und einleuchtendes Bild für Beat Furrers Musik: In einem Moment führen die Sänger allesamt Stimmgabeln an die Nase und riechen daran. An den Klängen nur riechen, das trifft schon was von Furrers Musikgestus und von Duras’ «Moderato cantabile».

Surreale Lautlosigkeit

Auf einer langen, schmalen Tribüne, die die ganze Schiffbau-Wand traversiert, zelebrieren Marthaler und Koregisseurin Annette Kuss die bekannten Marthaler-Gruppengänge, das bruchstückhafte Sichvortasten und Straucheln. In surrealer Lautlosigkeit, wie eine De-Chirico-Veranda fährt Famas Haus als Hohlform über die Bühne, das Haus, das bei Ovid die Klänge zurückwirft und wiederholt, was es hört. Doch ist das kein Lärm, sondern «leises Murmeln wie von Meereswellen». Und zu einem breit angelegten Furrer-Meeresmurmelcrescendo windet und verrenkt sich Annes Körper und weiss nicht, wie ihm geschieht.