Manuel Brug, Die Welt (08.07.2003)
Christoph Marthaler macht Beat Furrers "Invocation" zu einem Triumph zeitgenössischen Musiktheaters
Es geht also doch! Da begibt man sich Jahr für Jahr auf den steinigen Parcours, der mit der Uraufführung zeitgenössischer Opern gepflastert ist. Man wühlt sich durch literarische Vorlagen samt Subtexten, die meist zu verrätseltem Text samt nichts sagendem Titel gebündelt sind. Man verästelt sich brav mit dem Finger auf der Partiturlinie in kompliziertest polyphone Chöre. Man geht allen vokalen und existenziellen Aufspaltungen meist namenloser Protagonisten nach, die von Einsamsein und Verlorenheit brabbeln. Man hört auf eine kaum wahrnehmbare, verwisperte Musik. Man langweilt sich. Und hakt ein Stück ab, dem man nie wieder begegnen möchte, wohl nie wieder begegnen wird.
Dann kommt irgendwann doch der Abend, wo alle diese zu Klischees geronnenen Bestandteile vorhanden sind - und trotzdem macht es klick, ist es perfekt, bereitet es Spaß, Spannung. Man will das Stück gleich wieder hören - und sehen. Schon um zu überprüfen, was anderen als Christoph Marthaler einfällt, der in einer Zusammenarbeit von Zürcher Oper und Schauspielhaus im dortigen Schiffbau Beat Furrers Musiktheater in acht Bildern "Invocation" wunderfein uraufgeführt hat.
Der 49-jährige Furrer, bester Schweizer Tonsetzer im Wiener Exil, hat in seinem vierten Opus für ein die Oper konsequent weiterentwickelndes Musiktheater ein betörend schlichtes, höchst raffiniertes und sehr schönes Meisterwerk geschaffen. Ursprünglich "Moderato Cantabile", jetzt "Invocation" - "Anrufung" - geheißen, zieht er sein Thema aus der gleichnamigen, 1958 erschienenen Novelle von Marguerite Duras. Den hausfraulichen Existenzialismus der Vorlage, in der eine Fabrikantengattin im Café einen Mord aus Leidenschaft beobachtet und durch Gespräche mit einem unbekannten Mann ihr Leben zu ändern beginnt, geht uns nur durch den bitteren Blick von Jeanne Moreau nach, die durch die Peter-Brook-Verfilmung schlafwandelt.
Furrer reduziert das Geschehen, im Buch durch das vom Schuss gestörte Moderato Cantabile einer Diabelli-Sonate rhythmisiert, auf das Äußerste, verdichtet und erweitert, kommentiert und kontrapunktiert. Ganz leise und minimalistisch, in Furrer-typisch dem Atemhauch abgelauschten, doch spannungsvollen Fetzen setzt das mit einfachem Streicherpulten, aber drei Marimbas besetzte Orchester der 20 Musiker des Ensembles "Opera Nova" ein. Die angstvolle Stimme der Schauspielerin Olivia Grigolli steigt zwischen den als Ober und Saaltöchter gekleideten Spielenden auf. Der Schuss ist längst gefallen das Geschehen nimmt - "moderato" bedeutet "gemäßigt", "cantabile" meint "singend" - seinen Lauf, tragödienhaft, doch still und leise.
Einen 30 Meter langen Holzsteg, die Promenade am Meer, hinter der das Salz auf der Haut der Schiffbau-Wände blüht, hat Bettina Meyer quer in die lange Halle gestellt. Davor sitzt das Publikum ganz nah dran und wird doch auf Distanz gehalten, wenn die Grigolli und Robert Hunger-Bühler als der nüchterne Unbekannte miteinander zu kommunizieren versuchen.
Unmerklich schieben sich in die acht Teile des knapp 90-minütige Rondos einer Verzweifelten - wir wollen sie Anne1 nennen - Fremdkörper. Zum einen als Anne2-Aufspaltung dieser sonst namenlosen Sie die kongenial hysteriegefährdete, dabei hocherotische Sopranistin Alexandra von der Weth. Anne2 singt spanische Barocklyrik, die vom Begehren und Verlieren, schließlich von dionysischer Vereinigung handelt. Als Anne3 und ruhenden Pol gesellt sich - wie schon zu den wahnsinnig werdenden Primadonnen der romantischen Oper - die Flöte, mal Bass, mal Sopran, in Gestalt von Maria Goldschmidt dazu. Alle tragen sie helle Trenchs und blonde Perücken.
In schönste Fifties-Kostüme hat Annabelle Witt den zwölfköpfigen Chor des fabulösen Vokalensembles Zürich gekleidet. In hellen Anzügen und mit Glasperlen bestickten Seidenkleidern sitzen sie erst wie Spaziergänger auf den Bänken, singen ein lichtes Madrigal nach Pavese, dann unisono einen Text aus Ovids Metamorphosen und schließlich eine sie fast verschlingende, nun auch im Fortissimo sich entäußernde Orphische Hymne als akustischen Opfergang. Er und Sie, Ovid und Pavese, Furrer ist den Weg seines "Narcissus" und von "Begehren" weitergegangen. So bildungsbedeutsam das alles klingt, so sinnfällig und leichgewichtig löst es sich in der vom Komponisten dirigierten, schlanken und doch gehaltvollen Partitur, in Marthalers rhythmisch unauffälliger Bewegungsregie. Wahrlich: ein seltener Glücksfall im zeitgenössischen Musiktheater.