Gisela Mackensen, Wiesbadener Kurier (08.07.2003)
Zürich: Beat Furrers "invocation" in Marthalers Regie uraufgeführt
Anne, Frau eines reichen Fabrikanten, ist mit ihrem Sohn bei einer Klavierlehrerin in irgendeiner Stadt am Meer. Das Pianospiel des Kindes wird plötzlich von einem Schrei auf der Straße unterbrochen. In einer Kneipe hat ein Mann seine Geliebte erschossen. Anne wird von dem Ort des Verbrechens magisch angezogen. Der Schrei lässt sie nicht mehr los. Fast täglich kehrt sie in das Lokal zurück, wo sie immer wieder mit einem Unbekannten über den Mord aus Leidenschaft spricht. Sie spürt das strenge Korsett ihres bürgerlichen Lebens und sehnt sich nach echten Gefühlen.
Diese fragmentarische Erzählung von Marguerite Duras hat den Schweizer Komponisten Beat Furrer zu seiner Oper "invocation" (deutsch etwa: Anrufung) inspiriert. Das Musiktheater in acht Bildern wurde jetzt in Zürich in der Schiffbauhalle aufgeführt und vom Publikum bejubelt. Es ist die dritte Oper des in Österreich lebenden Musikers nach "Narcissus" (1994) und "Begehren" (2003), die beide in Graz uraufgeführt wurden. Zum Werk des Professors an der Musikhochschule Graz gehören außerdem die Kammeroper "Die Blinden" sowie kammermusikalische Stücke. Furrer geht es um die Einheit von Text und Musik. Dabei erzählt er keine Geschichte, sondern überträgt die Worte in Musik, die zugleich Atmosphäre beschreibt und Raum für Assoziationen bietet. Die Titelfigur Anne erscheint in dreifacher Verkörperung mit platinblonder Perücke und Trenchcoat: als Sopranistin (Alexandra von der Weth), als Schauspielerin (Olivia Grigolli) und als Flötistin (Maria Goldschmidt). Dabei dient dem 1954 in Schaffhausen geborenen Komponisten die Flöte als Scharnier zwischen Sängerin und Schauspielerin, die manchmal nur einzelne Worte oder Satzfetzen herausbringen.
Die Musik, die das Ensemble "Opera Nova" des Orchesters der Oper Zürich meisterhaft spielt, ist leise und zerbrechlich. Begleitet werden die Solisten vom Vokalensemble Zürich, das manchmal nur flüstert und seufzt. Das Publikum spendete den sechs Frauen und sechs Männern im 50er-Jahre-Look - die Damen in pastellfarbenen Cocktail-Kleidern und mit Hochfrisur - besonders herzlichen Applaus.
Regie in dieser ersten Ko-Produktion zwischen Zürcher Oper und Schauspielhaus führt Schauspielhaus-Intendant Christoph Marthaler. In dem als "Meister der Langsamkeit" bekannten Regisseur hat Furrer einen idealen Partner gefunden. Seine Inszenierung ist sparsam und ordnet sich der Musik unter. Anne als Schauspielerin verzichtet aber nicht auf die Marthaler-typischen akrobatischen Verrenkungen, wenn sie sich, vom Wein berauscht, zitternd und zappelnd aus der Starre ihres langweiligen Lebens zu befreien sucht. Annes anonymen Partner in der Kneipe verkörpert der Schauspieler Robert Hunger-Bühler.