Das gefesselte Begehren

Elisabeth Schwind, Badische Zeitung (08.07.2003)

invocation, 06.07.2003, Zürich

Christoph Marthaler bringt Beat Furrers Musiktheaterstück "Invocation" in Zürich zur Uraufführung

Man braucht ja so wenig, um Theater zu machen. Ein langer Steg, der sich quer durch die ganze Schiffbauhalle in Zürich zieht, darauf fünf Parkbänke, auf denen sich die Choristen marthalerisch platzieren - paarweise, doch beziehungs- und teilnahmslos, mit leeren Gesichtern starr geradeaus blickend. Und am Ende der Uraufführung von Beat Furrers "Invocation", von Christoph Marthaler und Annette Kuss auf eben jenem Steg inszeniert (Bühne: Bettina Meyer, Kostüme: Anabelle Witt), fragt man sich, warum Musiktheater nicht immer so funktio-niert. Es scheint so leicht, mit so wenigen Mitteln so stimmig zu arbeiten.

Ein begehbarer Würfel ist da noch, mit Ziegeldach und Veranda zum Modell eines südländischen Häuschens stili-siert. Das schiebt sich langsam den Steg entlang, über die Parkbänke hinweg, die es auf der einen Seite in sich aufnimmt und auf der anderen wieder entlässt. Wenn sich in dieser erstarrten Gesellschaft überhaupt etwas bewegt, dann sind es die Wände. Der Rest verharrt in Warteposition. Immerhin: Das wandernde Haus zwingt die Sitzenden, die Füße zu heben und trippelnd auf den Boden zu setzen, der unter ihnen weggezogen wird. Ein kurzer Moment der Komik in einem ansonsten beklemmenden Stück über das gefesselte Begehren.

"Begehren" hieß auch Furrers letzte Arbeit für das Musiktheater und in gewisser Weise scheint es mit "Invocation" seine Fortsetzung zu finden. Der Stoff basiert auf dem Roman "Moderato Cantabile" von Marguerite Duras, der mit Texten von Juan de la Cruz, Ovid und Cesare Pavese interpretierend unterfüttert wird: Anne wird von einem Schrei aus einem nahe gelegenen Café aus den geordneten Bahnen ihres Lebens geworfen. Geschrien hatte eine Frau in dem Moment, als ihr Liebhaber sie erschoss. Die Leidenschaft des Schreis und das Bild des Mannes, der sich auf die verlorene Geliebte wirft, zieht Anne an. Sie verstrickt sich selbst in eine ähnliche Geschichte erotischen Verlangens, sie überschreitet die Grenzen ihres moderato geführten Ehelebens - und vermag doch nicht, ihrem Begehren nachzugeben.

Bei Furrer ist Anne dreigeteilt - eine Art multiple Persönlichkeit, dargestellt von einer Sopranistin (Alexandra von der Weth), einer Schauspielerin (Olivia Grigoli) und einer Flötistin (Maria Goldschmidt). Das führt unweigerlich zu inneren Kämpfen - Marthaler inszeniert sie als Krämpfe, von denen Anne mitten in guter Gesellschaft geschüttelt wird, und Furrer fasst sie in eine Musik der unterdrückten Erregung. Sie bringt uns Annes Zustand nahe als nicht endendes Würgen an einer Leidenschaft, die heraus will und doch immer wieder in die Untiefen des Leibes zurückgezwungen wird. Fantastisch, wie sowohl Alexandra von Weth als auch Olivia Grigolli diesen emotionalen Notstand zusammen mit Robert Hunger-Bühler als "Er" darzustellen wissen.

Furrers Musik verbindet sich ideal mit dem Stoff des Duras-Romans, den er anstatt nachzuerzählen auf eine reflektierende Ebene hebt. Es ist eine leise, diffizile Musik. Aber sie kommt nicht aus der Stille. Vielleicht geht sie dorthin, vielleicht wird sie sogar dazu gezwungen - so wie man hochkochende Gefühle unter eine beschwichtigte Oberfläche zwingt. Leise ist eben nicht dasselbe wie ruhig. Gefühlsverästelungen kennt diese Musik, die der Komponist am Pult des Ensemble Opera Nova von der Zürcher Oper und unterstützt vom Freiburger Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung zu einem beeindruckenden Psychogramm verdichtet. Auch das ausgezeichnete Vokalensemble Zürich trägt erheblich zu der musikalischen Nuancierungskunst bei. Furrers Handschrift findet nicht nur in Marthalers reduziertem Stil ein passendes Gegenstück, seine Szene ist außerdem so behutsam aus der Musik heraus entwickelt, dass beides zu einer gänzlich stimmigen Einheit verschmilzt - eine Herausforderung für alle kommenden Regisseure.