Windmühlenkämpfe hinterm Gazevorhang

MIchael Eidenbenz, Tages-Anzeiger (03.06.2003)

Don Quichotte, 01.06.2003, Zürich

Mit Jules Massenets «Don Quichotte» beschwört das Zürcher Opernhaus eine legendäre Inszenierung. Leider können auch Legenden altern. Am Sonntag war Premiere.

«Don Quichotte, c’est moi», sagt Regisseur Piero Faggioni selbstbewusst und ohne jede Ironie im Programmheft. Wie Recht er damit hat! Es ist tatsächlich ein Kampf gegen Windmühlen, den der italienische Regisseur hier ficht, ein Kampf gegen unsichtbare, längst von der Theaterwelt verschwundene Gegner. Ein grossherziges Gefecht mit veralteten Waffen gegen einen Zeitgeist, der angeblich keine geistigen Werte mehr kenne. Nur, und darin unterscheidet sich der Regieheld von seiner Identifikationsfigur, ist das Resultat keine tragikomische Satire, sondern sentimentale Nostalgie - und verstaubt.

Doch von vorne: Seit 21 Jahren gilt Faggionis Inszenierung als Massstab für Jules Massenets letzte, 1909 vollendete Oper. Sie hat dem einst von der Theaterwelt gnädig vernachlässigten Werk eine Renaissance beschert, die 1972 im Teatro la Fenice in Venedig begann und unterdessen rund um die Welt Erfolge feierte, wie die im Programmheft abgedruckten Presseausschnitte belegen wollen. Von allem Anfang an in der Titelrolle mit dabei: Ruggero Raimondi.

Nun will sich also auch das Zürcher Opernhaus am angeblich legendären Ruhm dieser Tat beteiligen und stellt seine versammelten Kräfte von Orchester, Chor, Statistenverein, Kinderschar, Ballett, aufwändigster Bühnenbildarbeit und Kostümschneiderei (auch die Ausstattung stammt von Faggioni) sowie eine prominente Besetzung, Raimondi inklusive, in den Dienst von Faggionis Botschaften, die da lauten: Das Leben ist ein Traum, heutzutage sind andere Regisseure nicht mehr zu seriöser Detailarbeit fähig, ausgeklügelte Lichteffekte sind per se interessant, und ein Gazevorhang vor der Szenerie verleiht dieser geheimnisvolle Tiefe. Einfache Botschaften, geradlinige Behauptungen, frei von jener dialektischen Spannung, die in Cervantes’ kapitalem Roman einst das Potenzial für weltliterarische Gültigkeit ausmachte.

Frömmelnder Kitsch

Sie treffen sich immerhin mit Massenets Musik, die, im Einklang mit Henri Cains Libretto, Cervantes’ subversiven gesellschaftlichen Aussenseiter ihrerseits in mehreren Schritten zu einer Art Welterlöser umbiegt: Ein Gebet, von Orgel begleitet, und der frömmelnde Kitschtiefpunkt der Partitur stimmen eine böse Räuberbande gnädig. Dulcinée macht durch ihren verlachten Verehrer einen Gefühlswandel durch und erkennt in ihm zuletzt zwar immer noch einen Narren, aber immerhin einen vergeistigt sublimierten. Und Sancho Panso schliesslich erklärt am Ende seinen Herrn kurzerhand zu einem zweiten Jesus «im Apostelgewand». Es darf nun mal nicht anders sein in der betulichen alten Opernwelt: Das Gute muss eindeutig sein. Und das Gute ist bei Faggioni der Lebenstraum des Poeten Don Quichotte, der zur Ouvertüre schwelgend in seinen verstaubten Ritterbüchern liest. Die mit Flügeln zum Pegasus verwandelte Rosinante ist das Markenzeichen der Inszenierung. Und Don Quichotte selber ist der poetische Protagonist eines Theaters im Theater, das sich auf einer improvisierten Bühne in einem spanischen Getreidespeicher vor schaulustigem Volk in Kostümen aus Massenets Belle Epoque abspielt. Poesie also wäre gemeint - nach 21 Jahren ist daraus übersättigte Theaterromantik geworden.

Immerhin: Pittoreske Szenen gibts zu sehen. Charmant sind die Kinderritter auf ihren Rösschen, die als Kopfgeburten des «Chevalier de la longue figure» über die Bühne tänzeln. Iberophile Balletteinlagen, für einmal durchaus freiwillig komische Degenfechtereien, eine Räuberbande, die einer «Hotzenplotz»-Aufführung vom Hechtplatz-Theater entsprungen sein könnte, und ein zum Schattenspiel aufgeblähter drastischer Windmühlenkampf zu einem Stück fulminanter Orchestermusik bieten dem allenfalls kindlich staunenden Zuschauerblick Nahrung.

Erotische Zurückhaltung

Und auch dem - anspruchsvolleren - Ohr wird etliches geboten, freilich oft ebenso dick aufgetragen, wie es die Szenerie tut. Den vokal differenziertesten Auftritt hat als Dulcinée Vesselina Kasarova, die die glänzende Strahlkraft ihrer Stimme mit geradezu diseusenhafter Zurückhaltung als erotische Verlockung für ihre Verehrer präsentiert. Und selbst eine ihr von der Regie auferlegte flamencoartige Einlage meistert sie ohne grosse Peinlichkeit. Carlos Chausson gibt mit aufgedrehtem Komikwillen einen Bilderbuch-Sancho. Der Chor bewältigt die Tücken seiner Einsätze ohne allzu viel Einbusse an koordinatorischer Präzision, und Vladimir Fedoseyev führt das Orchester der Oper solide durch den Abend, Massenets Musik freilich eher herb parfümierend und in den spanischen Tanz- und Volksszenen reichlich handfest einfahrend. Dafür erhält So-locellist Luciano Pezzani dank des als Ou vertüre vorgezogenen Vorspiels zum letzten Akt gleich zweimal Gelegenheit, in einem Geschenk von einer Cellomelodie an die Tränenkanäle zu rühren.

Grosser Sänger, kleine Wirkung

Und Ruggero Raimondi? Noch immer schwingt er sich mit grotesker Würde auf sein Rosinante-Wägelchen, fuchtelt mit dem überlangen Speer und ist sich nicht zu schade, die konventionelle Opernpose für einmal mit etwas Komik zu drapieren. Doch wo ist an diesem Abend seine legendäre Bühnenpräsenz geblieben? Wo das grosse, freie Strömen seiner berühmten Stimme? Wo die kraftvolle Tiefe, wo die makellose Intonation und die agile Gestaltung? Wenige anrührende Momente gehen von dem zweifellos noch immer grossen Sänger aus, doch es scheint fast, als sei hier eine Sängerlegende in der Falle des legendären Ruhms gefangen. Don Quichotte aber ist keine Legende, weder eine fromme wie bei Massenet noch eine Inszenierungsantiquität wie bei Faggioni, sondern ein immer neu zu belebender, gegen den Weltgeist reitender göttlicher Narr. Diesem konnte das Publikum an diesem Abend nicht begegnen, es beschränkte seinen Applaus auf wohlwollende Höflichkeit.