Sibylle Ehrismann, Zürcher Oberländer (03.06.2003)
Premiere von Jules Massenets Oper «Don Quichotte» im Opernhaus Zürich
In der auf lange Sicht geplanten Massenet-Wiederbelebung des Opernhauses Zürich hatte am Sonntag Massenets letzte und zu seiner Zeit sehr erfolgreiche Oper «Don Quichotte» Premiere. Nach «Hérodiade», «Werther» und «Thérèse» lässt «Don Quichotte» noch einmal den feinfühligen Tragikomiker Massenet aufklingen, der in seiner Jugend ja zuerst mit Komödien Erfolge feierte.
Mit Ruggero Raimondi konnte die ausgesprochen anspruchsvolle Titelpartie des träumerischen Ritters ideal besetzt werden. Vladimir Fedoseyev und der Regisseur Piero Faggioni sorgten für eine plastische, real-traumhafte Szenerie von subtiler Sentimentalität.
Die schöne Dulcinea
Die unsterbliche Figur des fahrenden Ritters Don Quijote des spanischen Dichters Miguel de Cervantes Saavedras (1547-1616) hat viele Komponisten inspiriert. Massenet liess sich aber nicht von Cervantes, sondern von einer damals sehr erfolgreichen Dramatisierung des Stoffes von Jacques Le Lorrain anregen. Genial fand Massenet bei Le Lorrain, dass er Cervantes Dulcinea, eine hässliche Wirtsmagd, durch die originelle und bildhübsche Dulcinea ersetzte. Kein Wunder, war doch Massenet selbst ein unverbesserlicher Bonvivant. Dabei entging ihm aber der eigentliche Clou der Geschichte, die Tatsache nämlich, dass sich der «Ritter von der traurigen Gestalt» eben in eine Phantasiewelt hineinsteigert und sich gerade nicht in die reale Schönheit verliebt. So aber steht er an der Kippe zu einem lächerlichen, alten Gockel.
Doch Massenet gelingt es in seiner feinfühlig psychologisierenden Schreibweise, die abstrus-tragische Gestalt des phantasierenden Ritters pointiert und eindringlich zu erfassen und sie meisterhaft mit dem einfältigen Realismus des Sancho Panza zu kontrapunktieren. Seine Kunst des Karikierens beruht auf eklektischen Elementen. So zum Beispiel in Don Quichottes Ständchen «très amoureusement», bei dem er sich auf einer Mandoline begleitet. In Anlehnung an die Wagnersche Leitmotivtechnik durchzieht diese «Leitmelodie» die ganze Oper in mehreren Varianten und greift in die Handlung ein. Oder dann Don Quichottes feierlicher Auftritt im vierten Akt, im «alten» Tempo di menuetto maestoso, eine rührende Parodie seiner selbst.
Spott und Sentimentalität
Vladimir Fedoseyev gelingt eine einfühlsame Deutung dieser Gratwanderung zwischen Illusion, Sentimentalität und realem Spott. Zwar weist Massenets Musik einige Plattitüden und etwas gar viel Süssliches wie allzu dominante Harfenklänge auf, doch es gibt auch echt erschütternde Momente. Einer gehört Vesselina Kasarova als Dulcinée, deren ambivalentes Wesen als vermeintlich fröhliche, glanzvolle Kurtisane plötzlich einbricht. Ihre Arie im vierten Akt, in welcher sie dem erfolgreich zurückkehrenden und um ihre Hand bittenden Don Quichotte ihre echte Bewunderung ausdrückt, um ihm gleichzeitig eine Absage und damit den Todesstoss zu erteilen, singt sie mit betörender Eindringlichkeit und gefühlvoller Echtheit. Dazu die zarten Orchesterfarben, von Fedoseyev mit subtiler Zurückhaltung zum Leuchten gebracht - es stockt einem der Atem.
Doch die Oper gehört ja eigentlich den Männern, den ganz unterschiedlichen Bassstimmen des Don Quichotte und des Sancho Panza. Dieses Schillern in den dunklen Farben, diese weichen melodischen Wendungen und die unendlich vielen Nuancen im Ausdruck verlangen höchste technische und gestalterische Reife.
Ruggero Raimondi zählt zu den grossen Sängerdarstellern dieser Riesenpartie, in welcher er 1977 unter Nello Santi in Zürich debütierte. Raimondi kennt die Regungen dieser tragikomischen Figur sehr genau und weiss immer im richtigen Moment vom Komischen zum innerlich Heroischen, vom wild Kämpfenden zum Enttäuschten, vom Liebesbegehren zum Sterbenden zu wechseln. Nichts wird überzeichnet, nichts wird verpasst, jeder Moment ist durchdacht und echt gestaltet. Dem Don-Quichotte-Charakter kommt auch seine baritonale Stimme entgegen, die den grossen Atem in der weit ausgebreiteten Tiefe ebenso tragend auszuströmen weiss, wie sie die leichteren, aber immer hintersinnigen melodischen Wendungen pointiert zur Geltung zu bringen vermag. Raimondi schien sich auch in der Inszenierung von Piero Faggioni sehr wohl zu fühlen, die auf eine reale, überdimensionierte Traumwelt setzt.
Traumwelt auf der Bühne
Faggioni entwickelt die Geschichte mit gut motivierten Lichteffekten aus der Studierstube des Don Quichotte heraus, in welcher der Lesende in Erinnerungen schwelgt und zu träumen beginnt. Ein riesiges geflügeltes Pferd schwebt in der Ouvertüre heran und trägt ihn fort.
Die charakteristischen Reittiere, das Pferd von Don Quichotte und der Esel von Sancho Panza, werden in Originalgrösse auf Rollen herumgezogen und sind durch Scharniere gut beweglich. So kann der Kopf des Pferdes Zustimmung nicken oder Neinwippen, er kann entspannt hängen oder aufgerichtet hohe Aufmerksamkeit mimen. Daneben der trottlige Esel von Sancho, dem liebenswürdigen einfachen Knappen. Carlos Chausson verleiht ihm in diesem Rollendebüt eine sympathische, pointiert viel sagende Gestalt und hebt sich damit von der spottenden Gesellschaft um Dulcinée wirkungsvoll ab. Chausson singt mit warmem Strahl und schimpft mit einfachem Gemüt über die Weiber. Echte Knappen-Grösse mimt er in der Verzweiflung über den sterbenden Herrn im fünften Akt, und das mit erschütternder Hingabe.
Chor markant eingesetzt
Umgeben werden diese «komischen» Protagonisten von einem Heer von Choristen, spanischen Tänzern, Kindern und vielen Statisten. Das Volksfest, bei welchem Dulcinée sich feiern lässt, wird üppig ausgelebt. Von schlichter, musikalisch einfühlsamer Präsenz sind dabei die beiden Solotänzer Fabiana Maltarolli und Ákos Sebestyén, die im Wirrwarr des Volksfestes ruhige Akzente setzen. Der Chor (Einstudierung Jürg Hämmerli) tritt szenisch markant auf, setzt sich zum Zuschauen auf den Boden und greift dann plötzlich wieder ins Geschehen ein. Musikalisch ist er trotz dieser langen Präsenz auf der Bühne ungemein agil, klanglich raffiniert und dynamisch gut dosiert. Vladimir Fedoseyev weiss eben auch grosse Chöre sicher und subtil zu führen. Das Premierenpublikum war begeistert und feierte alle Beteiligten mit Bravo-Applaus.