Herbert Büttiker, Der Landbote (00.00.0000)
Ballett und Oper, Revue- und Effekttheater: Die Mischgattung des 18. Jahrhunderts, die mit Rameaus «Les Indes galantes» einen Höhepunkt erreicht hat, feiert im Opernhaus ein Comeback - nicht als historische Rekonstruktion, sondern als Musik-, Tanz- und Bühnenshow für ein Gegenwartspublikum.
Gegenwart? Der Schauplatz der «Indes galantes» im Zürcher Opernhaus ist – verblüffend genug – die Weltausstellung von 1889 in Paris: der Eiffelturm, Eisengotik auf dem Höhepunkt des Industriezeitalters, Exotismus und europäische Dominanz – eine Epoche, die etwa gleich weit entfernt liegt von der Zeit Ludwig XV. (Uraufführung der «Indes galantes» war 1735) und der Gegenwart. Gleich das erste Bild hebelt so ein Theater der seriösen Rekonstruktion wie der Aktualisierung aus, aber auch das 19. Jahrhundert gewinnt keine Macht über das anbrechende Bühnenspektakel.
Denn der Musik fehlt natürlich alle Schwere des Industriezeitalters und des grossen Orchesters der Spätromantik: Zu hören ist ja nicht Wagner, sondern Rameau, und zwar in der von William Christie mit grosser Verve akzentuierten Leichtigkeit, Spontaneität und – die längst «einverleibte»historische Musikpraxis macht es möglich – schon geradezu pausbäckiger Gesundheit, die nur in den langsamen Tempi manchmal zerbrechlich wirkt. Das Orchestra «La Scintilla» der Oper Zürich funkelt vor Spielfreude und täuscht mit Ausdrucksfülle und ausgeprägter Phrasierung darüber hinweg, dass es sich eigentlich um eine instrumental wenig aufgefächerte (in der kompositorischen Faktur um so vielfältigere) Musik handelt. Nur ausnahmsweise, aber effektvoll greifen die Trompeten oder spezielles Schlagzeug (Kettengerassel) ein. Aber wie in der Aufstellung der Instrumentalisten im angehobenen Orchestergraben überhaupt – die Oboen und Fagotte, den Dirigenten flankierend zur Bühne –, wird historische Musikpraxis auch ein sichtbares Erlebnis, wenn die Spieler der Musette oder der Tambour mit Schnabelpfeife auf die Bühne kommen.
Nicht nur das Barockorchester lässt die Weltausstellung von 1889 immer wieder vergessen. Auch die Bühnenkunst macht die Schwerindustrie vollkommen leicht: Hans Schavernoch zaubert die Eisenkonstruktionen auf bühnenbreite Lamellenstoren und Gazevorhänge. Durchsichtigkeit, spektrale Farbigkeit und offene, changierende Räume lassen das 19. Jahrhundert weit zurück – genauso wie ein grosser Teil der Kostüme, die Jordi Roig ebenso gut für den heutigen Laufsteg wie für die Ballett- und Opernbühne entworfen haben könnte: die eleganten Hosenanzüge der Tänzerinnen und Tänzer im Prolog, die Haute Couture im Blumen-Divertissement. Der Indianer scheint eher in der Disco als in der Prärie zu Hause.
Zwischen Tragédie und Revue
Die optisch-akustische Zeit- und Stilmélange hat zweifellos ihren Reiz als ästhetisch raffiniertes Spektakel, das – fern aller historischen Bemühung und Verantwortung – dennoch einen zentralen Aspekt des Opéra-Ballet trifft. Dieses wollte ja im Unterschied zur strengeren Tragédie lyrique durchaus auch ein unterhaltsameres Bühnenevent sein. Nicht umsonst folgten sich, durch die Themenvorgabe im Prolog thematisch locker verbunden, die «Entrées» ohne zwingenden Zusammenhang (1735 waren es erst drei, «Les Sauvages» kam 1736 dazu). Abwechslung war bestimmend: die Variation der Bühneneffekte (Seesturm, Erdbeben und Vulkanausbruch); die Möglichkeiten, neben eigenständigeren Ballettszenen Tanz inhaltlich einzubinden (ein Sonnenritual bei den Inkas, der Tanz mit der Friedenspfeife bei den Indianern); die Abfolge heiterer und pathetischer Akte; die Buntheit von Szenerie und Kostüm in der Reise vom türkischen Harem zu den Indianern Südamerikas, vom persischen Palastgarten zu den Prärie-Indianern Nordamerikas.
Wie Heinz Spoerli die Vielfalt der Musik und die lockere Dramaturgie des Stücks choreografisch zum Blühen bringt, hat immer wieder etwas Erstaunliches, und der ausgebreitete Reichtum begeistert umso mehr, je konkreter es sich darum handelt, wie sensibel und originell Tänzer Rhythmus und Charakter der Musik in Bewegungsfluss und Raumgestaltung umsetzen: Vieles ist voller Überraschung, schön im Wechsel von Witz und Anmut und wird brillant umgesetzt vom Corps und zwei Solistenpaaren (Evelyne Spagnol und Nicolas Blanc, Ana Quaresma und Akos Sebastyen). Auch der Chor – William Christie hat die stimmlich hervorragend präsenten Sängerinnen und Sänger seiner Choeur des Arts florissants nach Zürich mitgenommen – und in einzelnen Szenen auch die singenden Solisten tragen manches zur schönen choreografischen Musikalität der Aufführung bei, in der sich Rameaus Barock mit Spoerlis Bewegungssprache zwanglos verbindet.
Kurzweil ist also angesagt, jedoch über einen Abend von mehr als dreieinhalb Stunden Dauer, der auch seine Längen hat. Das hat gewissmit der Musik selber auch zu tun, mit langen Rezitativen und vielen Wiederholungen, aber ist da und dort auch ein Hinweis auf dramaturgische Defizite, indem sich das inhaltliche Interesse im bunten Äussern denn doch eher zu verlieren droht.
Rameaus Nähe zu Voltaire könnte ja stärker mit berücksichtigt werden, und damit der aufklärerische Ernst, der in der «realistischen» Stoffwahl (im Kontrast zu den klassischen und mythologischen Themen der Tragédie lyrique) der «Indes galantes» zum Ausdruck kommt. Krieg und Frieden (Prolog!), die Grossmut des Türken (die dann die «Entführung aus dem Serail» noch stärker akzentuieren wird), die Konfrontation der Kulturen, in der einmal europäische Überlegenheit im Vordergrund steht, einmal der «edle Wilde» im Kontrast zu westlicher Dekadenz: solches spielte gewiss eine wesentlichere Rolle und grundierte die Musik mit grösserer Intensität, als die Zürcher Inszenierung in ihrer ungezügelten Bilderfreude ahnen lässt.
Schon der überraschende szenische Ausgangspunkt der Inszenierung büsst im Laufe der Akte seine Stimmigkeit ein, bis er im Wüstenbild des letzten Entrées ganz vergessen ist. Er überzeugt in der ersten Entrée, wo die Weltausstellung Hintergrund für ein Theater auf dem Theater ist und so die barocke Bühne als liebevolles und ironisches Zitat gegenwärtig wird. Der Inka-Akt verliert dann aber an Plausibilität in der Pariser Maschinenhalle, wo der Peruaner nun nicht die Naturgewalten zu manipulieren versucht, sondern, technikkundig genug, eine Maschine explodieren lässt. Vor allem beeindruckt das grosse Tanztableau des Sonnenrituals an diesem Ort nicht sonderlich, wie überhaupt choreografisch Erzählendes (das Kofferballett!) nicht zum Inspiriertesten der Inszenierung zählt.
Virtuoses Ensemble
Aber das Ganze ist natürlich auch ein gewaltiger Brocken für den Regisseur und Choreografen in Personalunion. Dabei verteilen sich bei Spoerli Defizite wie Meriten durchaus auf beide Bereiche, wie die Prägnanz auch der Opernfiguren zeigt, zumal wo sich Komödiantik mit musikalischer Brillanz verbindet wie bei Martina Hartelius, die im Prolog als Göttin der Jugend ebenso koloraturensicher agiert wie im letzten Bild als Indianermädchen. Reinaldo Macias ist hier als flatterhafter Franzose augenzwinkernd ebenso pointiert wie zuvor als Liebender, der mannhaft gegen den Inka-Rivalen antritt. Seine Partnerin dort, Isabel Rey, hat die pfiffigsten Auftritte in den heiteren Rollen als kecker Amor und als Fatime mit Schnauz und Männerkleidern in der dritten Entrée. Der unkomplizierte Umgang mit der «alten Musik» überzeugt eben meist doch mehr als die Vibrato-Experimente, wie sie auch Liliana Nikiteanu im harmlosen Kleidertauschakt manchmal stimmlich etwas steif wirken lassen. Ihr Partner, der Tenor Christoph Strehl, gefällt hier mit frischem Zugriff, als verzweifelter Liebhaber im ersten Entrée kommt er angesichts der dem Pascha ausgelieferten Geliebten (ausgeglichen und innig Juliette Galstian) wohl zu sehr ins Schmachten.
Währschaftes, teilweise auch wenig Differenziertes ist von den tiefen Stimmen zu hören, von Reinhard Mayr als Kriegsgott im Prolog, von Gabriel Bermudez und von Rodney Gilfry als nicht durchwegs klar intonierendem Pascha und Inka-Gewaltigem. Aber auch sie gehören zu einem virtuosen Sängerensemble, das dafür sorgt, dass «Les Indes galantes» in der Reihe von «Einaktern» auch zum Opernabend wird – wobei das vielleicht in Frage zu stellen ist. Denn dass man hier Ballett und Oper weder auseinander dividieren möchte noch dividieren kann, macht das Besondere dieser Produktion ja gerade aus.