Die Sucht nach Entgrenzung und die Kunst der Koloratur

Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (16.01.2007)

Semele, 14.01.2007, Zürich

«Semele» von Georg Friedrich Händel im Opernhaus Zürich

Ist es nun die Oper, die kopfsteht? Oder das Oratorium, das so tut, als wäre es eine Oper? Jedenfalls: Im London des mittleren 18. Jahrhunderts gehört ein englischer Text zu einem geistlichen Sujet, was nach der Regel zum Oratorium führt. Denn anders als diese Gattung aus dem Konzertsaal behandelt die Oper einen weltlichen Stoff, meist einen aus dem Bereich der Royals und mythologisch verbrämt, und ist in italienischer Sprache gehalten. Hier freilich, in dem Text von William Congreve, wird ein weltlicher Stoff auf Englisch abgehandelt, was ein Oratorium ergäbe, nur stammt das Thema nicht aus der Bibel. Das ist «Semele» von Georg Friedrich Händel - der in seiner Not zu einem etwas kuriosen Untertitel gegriffen und das Stück, das er 1743 in vierwöchigem Schaffensrausch zu Papier brachte, «Oper nach der Art eines Oratoriums» genannt hat.

Nichts als Musik?

So wäre «Semele» denn eine Oper, die sich einzig und allein in der Musik ereignet, oder umgekehrt ein Oratorium mit kräftigen dramatischen Zügen. Aus beiden Blickwinkeln heraus muss eine szenische Umsetzung nicht unbedingt sein - und doch drängt das Stück auf die Bühne. Im Mai 2003 kam es im Theater Basel heraus: als Projekt von Herbert Wernicke, das nach dessen Tod von der Regisseurin Karin Beier übernommen wurde. Noch etwas weiter zurück liegt die Inszenierung, auf der die jüngste Produktion des Opernhauses Zürich basiert. Im Sommer 1996 erschien «Semele» beim Festival von Aix-en-Provence - eine Arbeit des Regisseurs Robert Carsen und des Dirigenten William Christie, die seither, in unterschiedlichen Besetzungen, an viele Theater Europas weitergegeben worden und nun auch nach Zürich gekommen ist.

Dass diese Inszenierung aus dem Fundus hervorgeholt wurde, ist nun allerdings ausgesprochen verdienstvoll. Carsen wie Christie arbeiten eher mit dem Silberstift als dem dicken Pinsel - und so fällt es dem Regisseur leicht, dem Dirigenten den Vorrang zu lassen. «Semele» ist hier in der schönsten Weise als Drama in und aus Musik zu erleben: einer Musik, die da und dort gewiss ihre formelhafte Seite hat, die aber immer wieder zu eindrücklicher Verdichtung findet und die vor allem in denkbar exquisiter Weise aufgeführt wird. Das Ensemble erfüllt viele Wünsche, der von Jürg Hämmerli und Ernst Raffelsberger betreute Chor hält wacker mit, und das Orchester «La Scintilla» der Oper Zürich, das der historischen Aufführungspraxis verpflichtet ist, findet geradewegs zu einer Sternstunde.

Obwohl sich in diesem Stück, von zwei Ensembles abgesehen, nichts als Arien mit ihren vorgeschalteten Rezitativen folgen und im Orchester die Streicher dominieren, ist der Abend von packender Spannung. William Christie setzt eben nicht einseitig auf Temperamentsausbruch und Tempoexzess, sondern geht äusserst differenziert mit Zeitmass, Klang und Artikulation um. Reich abgestuft sind seine Tempi, oft virtuos zugespitzt, aber stets so im Mass, dass der Notentext ohne Abstriche verwirklicht werden kann. Ausgefeilt sind die Nuancen der Tongebung zwischen dem ganz engen, fast ziehenden Legato und dem trockenen Anstossen der einzelnen Töne. Viel Sinn zeigt er für das Leise. Und wie er die dissonanten Vorhalte auskostet oder die Konsonanz eines Sextakkords zum Inbegriff der Erfüllung werden lässt, ist schlicht ein Wunder. Robert Carsen wiederum, der sich von dem Ausstatter Patrick Kinmonth unterstützen liess, erzählt die Liebesgeschichte zwischen Semele und Zeus, die Hera mit einem fiesen, aber raffinierten Trick scheitern lässt, ganz unverkrampft als Vorkommnis unserer Zeit: ein Fall für den «Daily Mirror», aber auch, wie wir zu sehen bekommen, die «Times». Und als ob der Irrwege zwischen Oper und Oratorium nicht genug wären, setzt er noch eins drauf, indem er die komischen Züge, die sich im Libretto von Congreve finden, die von Händel aber gemildert wurden, durch die szenische Hintertür wieder hineinbringt. Zum Höhepunkt diesbezüglich gerät der Auftritt der vor Eifersucht rasenden Hera und ihrer durchtrieben übereifrigen Botschafterin Iris, der von der riesigen Birgit Remmert und der quirligen Isabel Rey zu einer umwerfenden Slapstick-Nummer gemacht wird - chapeau, mesdames.

Mit einer Hochzeitszeremonie hebt das Stück an. Edel der schräg in den Raum gezogene rote Läufer und die von der Seite kommenden Lichtwirkungen, aber die Flammen auf dem Altar der Hera werden ebenso wenig gezeigt wie die schwarze Wolke, in der Semele, verbrannt im Anblick von Zeus, ihr Leben aushaucht: Drama in und aus Musik eben. Das ist die Stunde des Countertenors Thomas Michael Allen (Athamas) und der Mezzosopranistin Liliana Nikiteanu (Ino); wie sich die tiefe Frauenstimme und die hohe Männerstimme hier miteinander verschlingen, ist von eigenem Reiz. Am Ende, wenn Bacchus das Zepter ergreift und die Etikette fällt, werden die beiden ein Paar, doch bevor das lieto fine erreicht ist, sind noch einige Umwege zu bewältigen, an denen Hypnos (Anton Scharinger) als Helfershelfer und Zeus als Handelnder keinen geringen Anteil haben. Charles Workman, als Frauentraum aufgemacht, gibt den Göttervater nicht restlos souverän in den Koloraturen, aber mit strahlendem Forte und zartem Piano.

Die Primadonna

Im Zentrum der Produktion aber steht: Cecilia Bartoli. Sie ist Semele. Ist die Prinzessin, die den ihr vom Vater bestimmten Athamas nicht heiraten will, weil sie einen anderen im Herzen trägt. Ist das junge Mädchen in der Blüte der Liebe zum Übermann Zeus. Ist die Frau, die nach Entgrenzung, nämlich Unsterblichkeit strebt - die, angestiftet durch Hera, vom Gott das Erscheinen in wahrer Gestalt fordert und ihm damit etwas abverlangt, was er nicht verhindern kann: ihren Tod. Cecilia Bartoli ist grossartig bei Laune, und so zeigt sie das alles einfach hinreissend. Noch grossartiger ist sie bei Stimme, denn hier darf sie nach Massen vorführen, was sie kann wie niemand sonst. Ihre Arie von der endlosen Lust mit dem vergötterten Mann im ersten Akt, vor allem aber ihr Ausbruch im dritten Akt, wo sie Zeus davon in Kenntnis setzt, dass sie nicht weniger als alles haben wolle, lassen einen für Augenblicke den Atem anhalten. In wildem, aber wohlgesteuertem Fall purzeln die Töne aus ihrer Kehle, millimetergenau in jeder Hinsicht und makellos geleitet durch das Orchester. Die Kunst der Koloratur - an diesem Abend hat sie wieder einmal einen grossen Auftritt.