Zwischen grosser und kleiner Ekstase

Herbert Büttiker, Der Landbote (16.01.2007)

Semele, 14.01.2007, Zürich

In der Reihe seiner Händel-Inszenierungen hat das Opernhaus ein neues Glanzstück. Die Inszenierung der «Semele» ist zwar nur ein Remake eines Festival-Erfolgs von Aix-en-Provence von 1996, prall gefüllt aber mit neuem Bühnenleben.

Wenn ein Robert Carsen und ein William Christie eine alte Produktion neu erarbeiten, ist es gewiss mehr als eine Wiederholung. Schon die neuen Interpreten, vom unglaublich vifen Orchestra «la Scintilla» bis zu Cecilia Bartoli als Darstellerin der Titelpartie machen diese Produktion zu einer Zürcher Angelegenheit. Glänzende Auftritte darstellerisch wie sängerisch haben insbesondere Birgit Remmert als Juno und Isabel Rey als ihre göttliche Sekretärin Iris in Klamaukszenen von umwerfender Komik sowie Lialiana Nikiteanu als unglücklich liebende Ino. Neu und eine Entdeckung für Zürich ist der Tenor Charles Workman, der einen sensiblen und imperialen Jupiter gibt mit hellem und beweglichem, aber kraftvollem Tenor. In weiteren Partien ergänzen Anton Scharinger und Thomas Michael Allen rollengerecht das Ensemble, das mit Christies klangsinnlich aufschäumendem Barock, aber den auch oft extremen Vorgaben imponierend zurecht kommt: mit schnellen Tempi, deren Agilität gerade noch zu erreichen ist, mit Piani, die gerade noch zu hören sind und sich dehnenden, von Pausen durchsetzten Phrasen, die gerade noch gehalten sind.

Ein «Phänomen» für sich im Bereich solcher Extreme ist freilich Cecilia Bartoli, und «Semele» gibt ihr die Gelegenheit sie zu zelebrieren wie selten. Gleich zwei Arien laden sie dazu ein, die rasende Koloraturentechnik auf die Spitze zu treiben. Diese ist zwar klanglich denn doch eher als hässlich zu taxieren, macht aber grossen Effekt - hier besonders auch, weil die Bizarrerie zum Charakter der Figur passt. «Myself I shall adore» singt sie vor dem Zauberspiegel, den ihr die eifersüchtige Juno hinhält, um ihren Ehrgeiz anzustacheln. Zusammen mit der herrlich kapriziösen Echo-Begleitung des Orchesters und einem ganzen Katalog selbstverliebter Blicke und Gesten entsteht in diesen Koloraturen eine aberwitzige Parodie weiblicher Eitelkeit. Dem setzt sie dann in der nächsten Szene - «All in full exzess» - noch eins drauf in einer furiosen Koloratur- und Kissenschlacht, wenn sie, jetzt überzeugt, dass sie wirklich Anspruch auf Unsterblichkeit hat, Jupiter eine Szene macht.

Koloratur als Slapstick: Für die Grenzen zwischen dem Komischen und Pathetischen hat die Musik oft wenig deutliche Marken, und die Interpreten haben die Freiheit, sie zu ziehen. Der Mythos (Quelle sind Ovids «Metamorphosen»), handelt von einer der zahlreichen Affären des Göttervaters Zeus, von seiner eifersüchtigen Gemahlin Hera, der Hüterin der Ehe, und von Semele, die sich mit der Rolle als Geliebte nicht begnügt, und - von Hera dazu aufgestachelt - vom Gott verlangt, dass er sich ihr in seiner eigentlichen Gestalt nähert, was sie dann mit dem Leben bezahlt. Immerhin entsteigt Gott Dionysos ihrer Asche.
Congreves Stück bindet Semele zudem in ein konventionelles Beziehungsnetz ein: Vater, Verlobter und Schwester. Dass es sich um die Persiflage der königlichen Mätressenwirtschaft handelt, gehörte von Anfang an zur Deutung seines Stücks, und auch Carsens Inszenierung ist der Gesellschaftssatire verpflichtet. Das bestechende Bühnenbild schafft mit wenigen Elementen in einem grosszügigen Raum Palastatmosphäre, die eleganten Anzüge und Roben versetzen das mythische Personal in die (englische) Oberschicht, wo die Skandale fette Schlagzeilen nach sich ziehen: «It’s official!» (Ausstattung: Patrick Kinmonth).

Worin liegt der Skandal? Eine Frau ist uneinsichtig genug, ihre Position als Mätresse zu verkennen. Der kommentierende Chor meint: Wer aus seiner Sphäre tritt, irre wie ein Meteor umher und müsse zerschellen. So gesehen ein mageres Fazit und eines, das den «Gott» unverdientermassen ungeschoren davonkommen lässt. Aber es geht nicht nur um gesellschaftliche Schranken, die Rede ist von den Grenzen, die die Natur dem Sterblichen setzt. Auf die Idee der «unsterblichen Liebe» als Paradies-Garantie verfallen nicht nur schöne und allzu kokette Frauen. In einer der musikalisch schönsten Szenen des Werks, am Ende des zweiten Aktes, leiht die Musik diesem Traum ihre ganze Magie: Semeles Sehnsuchtsarie, Jupiters blendendes Kommen und Gehen, seine galanten Beteuerungen, der Chor der Liebesgötter sind vorausgegangen, jetzt droht, im Beisein der Schwester, die Ernüchterung, aber es kommt die «extasy of sound»: Händel beschwört Sphärenmusik, Semele und Juno stimmen ein und fordern den Chor der Nymphen und Schäfer auf mitzutun, und auf der Bühne funkeln die Sterne.

So mythologiefern sich die Zürcher Inszenierung vordergründig gibt, ihre Qualität liegt darin, dass sie in der Royal-Persiflage den universellen Menschheitstraum mitbedenkt. So steht und bleibt in dieser, ja in allen Szenen Jupiter, der Gott: Nichts zieht diese Figur in die Satire hinab, und das ist gut so. Und gut ist der Schluss, wo die Wende zum Ironischen dann doch noch folgt: Jupiter sitzt als König, frustriert über den Verlauf seines Abenteuers, neben der Gattin auf dem Thron und eröffnet die Sekt-Party: der Trost - dem Mythos ganz gemäss - , den Gott Dionysos als kleiner Ersatz für die unerreichbare grosse Ekstase der Liebe bereithält.