Kissenschlacht statt Liebesnacht

Christian Berzins, Mittelland Zeitung (16.01.2007)

Semele, 14.01.2007, Zürich

Opernhaus Zürich: Robert Carsens alte Inszenierung von G. F. Händels Oratorium «Semele» wird neu aufgetischt, aber nicht aufgefrischt.

Geschichte A ist ein Handlungsgerüst und geht so: Kurz vor dem Traualter sagt Semele: «Nein, ich will nicht!» Flugs wird sie von ihrem Geliebten auch schon entführt, der ihr bald jeden Wunsch von den Lippen abliest: Klunker, Kleider, endlose Küsse. Und doch muss er sie bald töten, da sie sich nicht an die Konventionen einer Mätresse hält. In Geschichte B ist der Geliebte Semeles nicht irgendwer, sondern ein Gott. Semeles Konventionsbruch zeigt sich hier darin, dass sie Unsterblichkeit erlangen will und den Geliebten in seiner ganzen Göttlichkeit sehen will. Daran muss sie zugrunde gehen - die dem Gott vorauseilenden Blitze sind noch das geringste Übel.

Die Geschichte A lässt sich auf jeder Bühne einfach und effektvoll erzählen: Man versetze die Handlung an einen skandalträchtigen Königshof, etwa den englischen, kopiere ihn, so, wie man sich so etwas vorstellt, double also effektvoll die Herrscherin, verneble nicht ganz erklärbare Vorgänge mit Gags, mische dann aber auch eine magische, poetische Szene dazu, lasse die Primadonna bald etwas Bein zeigen - und vertraue schliesslich auf die Musik. Schon ist er fertig, der nette, viel beklatschte Zürcher Opernabend.

Aber was ist mit Geschichte B? Sie ist so famos, dass sie von den Dichtern immer und immer wieder erzählt oder von den Malern gemalt wurde, zum Mythos und - wen wunderts? - gar zur Oper wurde. Wer diese Geschichte auf die Bühne bringen will, kommt nicht darum herum, menschliches Handeln an sich zu erklären: die Auseinandersetzung des Menschen mit dem Göttlichen. Geschichte B ist ja nichts weiter als eine Metapher für eine Vielzahl «unerklärbarer» menschlicher Regungen. Allein, diese Ebene berührt die Inszenierung von Robert Carsen in Zürich nie. Aber immerhin sind wir in der Oper und hätten die Musik von Georg Friedrich Händels 1744 uraufgeführtem Oratorium, Musik, die uns diese andere Ebene öffnet. Doch leider wird auch hier mehr Konvention geboten denn brückenbildende Leidenschaft erreicht.

Dirigent William Christie zeigt alles fein säuberlich ausgehorcht auf, selig lächelnd streift er durch die Partitur. Abgründe finden sich in dieser vermeintlich historisierenden Politur aber nicht. Gesungen wird gut, auch wenn Birgit Remmert (Juno), Liliana Nikiteanu (Ino) und Isabel Rey (Iris) vor allem die Aufgaben des Regisseurs erfüllen. Allein der Tenor Charles Workman (Jupiter) hebt ab vom Normalen und singt wundersam lyrisch und gestaltet doch jede (englische) Silbe aus.

Auch der Star des Abends - Cecilia Bartoli - ist anders: Wut wird zum Schrei, Koloraturen-Spiel zur Koloraturen-Obsession, süsse Naivität zum kindischen Getue. Und damit erinnert sie an die Regie: Viel gemacht, aber nicht ins Innere gelangt. Wie Bartoli auf dem Bett rumzappelt und darauf bedacht ist, dass ihr Unterrock nicht nach oben rutscht, gehört zu den peinlicheren, aber nicht enden wollenden Momenten des Geschehens.

Die einen mögen in der Programmation von «Semele» die dramaturgische Weiterführung der Händel-Pflege des Zürcher Opernhauses sehen, die anderen erkennen dahinter ganz einfach die Erfüllung eines Wunsches von Opernstar Bartoli. Jedenfalls hat man am Opernhaus nicht allzu lange an der Produktion von «Semele» herumstudiert, sondern, wie diese Saison schon beim «Schlauen Füchslein» geschehen, eine bestehende Produktion eingekauft - eine, die schon vielerorts zu sehen war. Schade, hat man nicht in Basel nachgefragt. Karin Beiers «Semele» war 2003 dank Titelfigur Maya Boog zu einem unvergessenen Opernerlebnis geworden. Wie es diese Regisseurin schaffte, die dionysische Grenzerfahrung Semeles auf der Bühne zu zeigen, war beängstigend: Eifersucht, Liebes- wie Todessehnsucht wurden erahnbar und die Liebesnacht wurde zur Liebesschlacht. In Zürich fliegen immerhin die Kissen.