Tobias Gerosa, Der Bund (16.01.2007)
Musikalischer Hochgenuss: Händels «Semele» mit William Christie und Cecilia Bartoli am Opernhaus Zürich
Einmal mehr überzeugt die neueste Produktion des Opernhauses Zürich mit brillantem Orchester und einer blendenden Besetzung. Die Inszenierung arbeitet routiniert mit schönen Bildern, will sich aber nicht zwischen Ernsthaftigkeit und Ironie entscheiden.
Cecilia Bartoli ist Semele. Und sie ist voll und ganz die von Jupiter begehrte und schliesslich an ihrer Vermessenheit, Unsterblichkeit zu fordern, zu Grunde gehende Frau: Mit vollem Engagement, das diesmal körperlich weiter geht denn je, singt Bartoli ihre wahnwitzigen Koloraturen, gestaltet aber auch wunderbar schlichte und leise Töne. Und mit überschäumender Theatralität ist sie sowohl als Komödiantin wie als Tragödin glaubwürdig.
Zum ersten Mal singt sie eine englischsprachige Partie. Bartolis Wirkung hat nochmals zugenommen, nachdem sie einige frühere Unarten völlig abgelegt hat (wie etwa die schnaubende Atmung und verhauchte oder gurgelnde Töne). Es dauert in dieser «Semele» zwar eine ganze Weile, bis Bartoli zu Semeles beiden grossen Arien ansetzt, dann jedoch hat sie ihr Publikum total im Griff.
Lyrischer Grundcharakter
Verblendet von der eifersüchtigen Juno besingt sie selbstverliebt ihre Schönheit, indem sie gleichzeitig divenhaft agierend dieses Verhalten selbstironisch persifliert; dabei steigert sie sich in immer virtuosere lyrische Koloraturen. Wenn sie Jupiter beschimpft, tut sie dies nicht weniger eindrücklich. Und weil er ihr den Wunsch, ihn in seiner echten Gestalt zu sehen, ausreden will, klingen ihre Verzierungen angriffig, ja aggressiv wie aus einer anderen (Vokal-)Welt - Bartoli stellt ihr vokales Können lustvoll aus, aber immer zuerst in den Dienst der Rolle und des Stücks.
Natürlich misst ihr das Werk die Filetstücke zu - schliesslich will es in bester moralisierender Manier zeigen, wie Semele für ihren frevelhaften Übermut bestraft wird - doch die Oper bietet weit mehr als eine Bartoli-Show, dafür sorgt William Christie mit dem hervorragenden Orchestra La Scintilla. Mit welcher Feinheit da musiziert wird, wie genau Affekte ausgeformt und die Da-capo-Teile auch instrumental variiert werden, ist atemberaubend. Dem lyrischen Grundcharakter der Oper kommt Christies ruhige Art entgegen - dazu gibt es diesmal aber doch eine angemessene Portion an geschmackvoll gesetzten Effekten.
Tenor-Gott im hellen Anzug
Die sicht- wie hörbar gelöste Stimmung überträgt sich mit den ersten Tönen aufs Publikum und hält mühelos über die drei Stunden Spielzeit. Mit homogenem Klang setzt auch der Chor erfreuliche Akzente, der in dieser Oper «after the manner of an oratorio» (Händel) dankbarere Aufgaben erhält als in anderen Barockopern.
Dafür, dass ein vollgültiges Opern-Ganzes entsteht, sorgt auch Charles Workman als Jupiter. Ein verführerischer Tenor-Gott im hellen Anzug, der die gefährliche Anziehung seiner Figur bronzen timbriert zu transportieren weiss. Trotz Verzicht auf die Besetzung mit einem Countertenor entsteht so ein reizvoller vokaler Kontrast zum Haut-Contre von Thomas Michael Allen als Semeles irdischem Bräutigam Athamas. Dabei liegen Workman vor allem die lyrischen Stellen, wenn er wie in der Verführungsarie am Schluss des zweiten Aktes ganz leise singen kann. Schade nur, dass in der schnellen Koloraturarie die Stimme verhärtet. Dass die Rolle trotzdem konturiert wirkt, liegt allerdings mehr an der Regie denn an Workman, der den Massstab bezüglich Textverständlichkeit setzt.
Aber wo Semele als menschliche Figur bei Bartoli durch ihre Natürlichkeit bezwingt und Juno, Jupiters Ehefrau und Gegenspielerin im Kampf um die schöne Semele, unübersehbar karikiert gezeigt wird, wird der Grat für die mythische Gestalt des Göttervaters schmal bis zur Unverbindlichkeit. Soll man Jupiter jetzt belachen wie seine Queen-Gattin (Birgit Remmert) mit ihrer Gouvernante (Isabel Rey) in ihrem komödiantischen Kabinettstücklein oder ihn als Befreier aus der erstarrten Adelswelt von Vater Cadmus (Anton Scharinger) bewundern? Am sichtbarsten wird dieser Bruch an Ino, Semeles Schwester, die bei Liliana Nikiteanu weder in die eine noch die andere Sphäre passt.
Barockes Welttheater
Regisseur Robert Carsen, der in Zürich eine bereits 1996 in Aix-en-Provence entstandene und seither an diversen Orten zu sehende Inszenierung neu einstudiert hat, oder, wie der Besetzungszettel verrät, das von einer Assistentin tun liess, hatte wohl barockes Welttheater im Sinn, als er sich weder auf die Tragödie noch die Komödie festlegen wollte.
Wo Barbara Beier 2003 am Theater Basel das Stück radikal auf die tragische Haupthandlung konzentrierte, setzt Carsen im Einheitsbühnenbild von Patrick Kimmonth mit seinem dominierend, im leeren Raum stehenden klassischen Portal auf schöne Bilder, deren Wirkung jedoch (wie bei der Weltübergabe) manchmal nahe am Kitsch vorbeischrammt. Aber dabei führt er die Sängerinnen zu ungenau. Dank dem Bühnentier Cecilia Bartoli fällt das diesmal nicht allzu sehr ins Gewicht.